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Die freie Intelligenz der Regellosen
Rahel Varnhagen       von Hannah Arendt


Terror als Vollzug der Gewaltherrschaft im Rekurs auf vorgegebene Gesetzmäßigkeiten
Die Anfälligkeit der verlassenen Seele
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft       von Hannah Arendt


Vorrede zur Vita Activa
Von der Heiligkeit der körperlichen Arbeit
Entwicklung des Wesens der Arbeit vom Göttlichen zum Knechtischen
Die Verwurzelung       von Simone Weil


Die Substitution des Handeln freier Individuen durch die Tyrannei des Herstellens
Von der Verherrlichung der Arbeit
Das Streben nach Verwirklichung abstrakter Ideen anstatt zu sein und zu leben
Verteidigung der Demokratie in der Verteidigung des pluralistischen öffentlichen
  Diskurses
Die Wirkung der christlichen Heilslehre auf Selbstsicht und Wirtschaften
Vita Activa oder Vom tätigen Leben       von Hannah Arendt

Weiteres von Hannah Arendt finde z.B. hier und hier






Aus
Hannah Arendt, Rahel Varnhagen

R. Piper & co. Verlag München, 1959
[ Rahel Varnhagen von Ense (* 19. Mai 1771 in Berlin; † 7. März 1833 ebenda; auch Rahel Levin (Geburtsname), Rahel Robert bzw. Robert-Tornow (angenommener Familienname ab Mitte der 1790er-Jahre), Friedericke Antonie (Taufname, ab 1814)) war eine deutsche Schriftstellerin. Rahel Varnhagen gehörte der romantischen Epoche an und vertrat zugleich Positionen der europäischen Aufklärung. Sie trat für die Emanzipation des Judentums und der Frauen ein. ]

Herder identifizert als erster in Deutschland ausdrücklich die jetzigen, gegenwärtigen Juden mit ihrer Geschichte und mit dem alten Testament, das heißt, er bemüht sich, ihre Geschichte so zu verstehen, wie sie selbst einst sie deuteten: als die Geschichte des auserwählten Volkes.

Herder hat einmal expressis verbis Vorurteilslosigkeit von dem gebildeten Juden verlangt.
....
Daher stammt ihre schlagende Art, Dinge, Menschen, Situationen zu beschreiben. Ihr Witz, der schon das junge Mädchen gefürchtet sein ließ, ist nur die völlig unbeschwerte Art zu sehen. Sie lebt in keiner bestimmten Ordnung der Welt, sie weigert sich, eine Ordnung zu lernen. Sie kann das Entfernteste im Witz zusammenbringen, sie kann im Zusammenhängendsten die Zusammenhanglosigkeit aufdecken.

Wenn der Mensch sich einmal dem Zufall ergeben, wenn er auf seine Autonomie verzichtet hat, wenn er >nicht zu denen gehören will, die nicht sich selbst aufs Spiel setzen<, dann muss er damit rechnen, unglücklich zu werden, wie er hätte glücklich werden können; dann muß er damit rechnen, geschändet zu werden, wie er hätte gesegnet werden können.
Unglück und Schande ist es, wenn alles, was man hat, nur dazu da scheint, klarzumachen, was man nicht hat; wenn >trotz der ungeheuren Gaben und Geschenke< immer >der Glanz und die Spitze der Dinge fehlt<.

In der Welt der Meinungen ist die Wahrheit selbst nur eine Meinung, sie ist unscheinbar.

Weil sie Goethe versteht und erst von ihm aus sich versteht, kann er ihr fast die Tradition ersetzen.
Er [August Varnhagen] schildert sich selbst ausgezeichnet: ‘.... Aber in dieser völligen Leerheit bin ich immer offen, ein Sonnenstrahl, eine Bewegung, eine Gestalt des Schönen oder auch nur der Kraft werden mir nicht entgehen, ich erwarte nur, daß etwas vorgehe, ein Bettler am Wege.‘

Immer mehr Reichtum wird gefordert, damit er den Stand ersetze. Ohne ihn ist nichts mehr zu erreichen.
Der Ausbruch des neuen Krieges zwischen Österreich und Frankreich im Jahre 1809 rief nicht nur die deutschen Patrioten, die verzweifelt sind über Preußens Untätigkeit, zu den Fahnen, sondern in größerem Maßstab, wenn auch unkontrollierbarer, eine Jugend, die in dem verkleinerten, verarmten, politisch ruinierten Staat keine Möglichkeit des Vorwärtskommens mehr hatte. Für sie war der Krieg die einzige Lotterie, die ihr noch eine gewisse Chance auf Gewinn bot.
So beginnt ihre Vaterlandsbegeisterung mit der enthusiastischen Bewunderung aller Proklamationen, in denen dem französischen Volke nicht Unrecht getan wird, in denen man >den Feind zu ehren weiß, die Nation schont und nicht schimpft<. Was für die anderen höchstens ein Nebenbei ist: Rechtlichkeit auch im Kriege, ist ihr die Hauptsache; ja der ganze Krieg brauchte, ginge es nach ihr, nur zu zeigen, daß die größte Tugend der aufgeklärten Menschheit: Gerechtigkeit, immer und überall siegen kann. Mit dieser Tugend identifiziert sie das deutsche Volk, um auf solch merkwürdigem Umweg, den nach ihr auf diese oder jene Manier fast alle offiziellen Wortführer des deutschen Judentums gegangen sind, zu einer Identifizierung mit dem deutschen Patriotismus zu kommen.

Die Sensibilität, das wortwörtliche Mit-leiden, das wiederum distanzlos ist, ist nur der krankhaft gesteigerte Ausdruck für das instinktive Begreifen der Würde, die jedem innewohnt, der ein menschliches Antlitz trägt, ein Instinkt, den die Privilegierten nie kennen, der die Humanität des Paria ausmacht, der ihn eindeutig unterscheidet von dem gehetzten Tier, das er in der Gesellschaft darstellen muß .... Die Menschenwürde, die Achtung vor dem menschlichen Angesicht, die der Paria instinktartig entdeckt, ist die einzig natürliche Vorstufe für das gesamte moralische Weltgebäude der Vernunft.
Diese Eigenschaften - und Rahel nennt sie ihre beiden ‘unaussprechlichen Fehler‘ - muß der Parvenu ablegen. Er darf nicht dankbar sein, weil er alles seinen eigenen Kräften schuldet; er darf keine Rücksicht für ‘menschlich Angesicht‘ kennen, weil er sich selbst als eine Art Übermensch der Tüchtigkeit, als ein Leitbild seiner armen Pariabrüder einschätzen muß.
Rahel ist ihre ‘Fehler‘ nie losgeworden. Sie haben sie gehindert, ein richtiger Parvenu zu werden, sich als Parvenu glücklich zu fühlen. .... Daß es ihr gelang, ihre Pariaqualitäten in das Parvenudasein hinüberzuretten, hat ihr einen Ausblick eröffnet, einen Weg vorgezeichnet in Altern und Sterben. .... Wenn er [der Paria] nämlich für ‘unselige Lagen‘ mit der ‘Betrachtung des Ganzen‘ entlohnt wird, seine einzig würdige Hoffnung, ‘weil alles Zusammenhang hat; und es ist wahrlich auch jedes gut genug. Dies ist aus dem großen Bankrott des Lebens das gerettete Vermögen.‘







Aus
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft

Europäische Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main, 1955 (Erstausgabe 1955, Original “The Origins of Totalitarism”, Frühjahr 1951)

NOTE: Zitate in gewöhnlicher Groß/klein-Schreibung, zusammenfassungen/interpretationen in kleinschreibung

p5: Der antisemitismus ist, wie andere vorgänge, zBsp der hass auf den adel in der französischen revolution, ein angriff auf eine gruppe von menschen, die ihre macht, nicht jedoch ihren reichtum verloren hat. Denn macht, gleich wie auch immer ausgeübt, zBsp ausbeuterisch, wird als system-formend und -erhaltend empfunden und deshalb toleriert. Der antisemitismus traf den jüdischen teil der bevölkerung in einer phase des statistisch vorherzusehenden aussterberns, und nach dem ausscheiden aus dem bankwesen etc.

p13f: Der vorwurf Platons an die sophisten war, den verstand zu verzaubern, einen temporären sieg auf kosten der wahrheit zu beabsichtigen. Die heutigen ideologen hingegen wollen einen permanenten sieg auf kosten der wirklichkeit. “Die einen, könnte man sagen, zerstörten die Würde des menschlichen Denkens, während die anderen versuchen, die Würde des handelnden Menschen und seiner geschichtlichen Realität zu vernichten ... Was heute auf dem Spiel steht, ist die Existenz der Geschichte selbst, sofern sie verstanden und darum erinnert werden kann ....”
[Anmerkung: Dies kann seltsamer weise durchaus auch eine komische komponente beinhalten:
Lászlo Keri, Professor, Politologe, bei dem Premier Viktor Orbán einst studierte und der nun unter dessen Regierung "aus Altersgründen" abgelöst wurde auf die Frage: Wohin steuert das Land unter dieser Regierung? " Ich glaube nicht, dass Ungarn auf dem Weg in eine Diktatur ist, obwohl Orbán das vielleicht gern hätte", sagt der Professor: " Aber unser Volk neigt von jeher zum Schlendrian, und unser größter Beitrag zur europäischen Kultur war vermutlich die Operette. Was sich jetzt bei uns anbahnt, ist eine Operetten-Diktatur."
Der Spiegel 33/2011p94ff, Ungarn - Archipel Gulasch, von Walter Mayr]

p675ff: “Es ist in der Tat die monströse, aber sehr schwer zurückweisbare Behauptung der totalitären Machthaber, dass sie nicht nur nicht gesetzlos und willkürlich handeln, sondern im Gegenteil zu den Quellen der Autorität zurückkehrten, von denen alles positive Recht sich speist und seine Legitimität erst erhält. Damit wird zwar der Unterschied zwischen Schuld und Unschuld, der immer nur an positivem Recht zu messen ist abgeschafft - und damit alle Beurteilung, Aburteilung und Bestrafung unmöglich gemacht -, gleichzeitig aber angeblich eine höhere Form von Gesetzestreue erzeugt, die es sich leisten könne, mit dem kleinlichen Buchstaben positiv erlassener Gesetze nach Belieben umzugehen, weil ihr ein Handeln entspringt, das eine direkte und unvermeidliche Ausführung von Befehlen sei, die Geschichte oder Natur selbst gegeben haben. [cf. hier ein neueres Beispiel] Im Gegensatz zu dem legalen Handeln, das durch positives Recht ermöglicht wird und das immer durch einen Mangel gerade an Gerechtigkeit gekennzeichnet ist, weil das allgemeine Gesetz auf bestimmte Fälle angewandt wird, die es nie in ihrer Besonderheit voraussehen konnte und auf dies es daher nie wirklich zugeschnitten ist, im Gegensatz zu dieser immer auch ungerechten Legalität behauptet die totalitäre Herrschaft, eine Welt herstellen zu können, die von sich aus, unabhängig vom Handeln der Menschen in ihr, gesetzmäß ist, in Übereinstimmung mit den die Welt eigentlich durchwaltenden Gesetzen funktioniert - wobei es gleichgültig ist, ob dieses Gesetz als das in der Natur geltende Recht oder ein dem geschichtlichen Ablauf immanentes Gesetz hingestellt wird.
In der Verachtung der totalitären Gewalthaber für positives Recht spricht sich eine unmenschliche Gesetzestreue aus, für welche Menschen nur das Material sind, an dem die übermenschlichen Gesetze von Natur und Geschichte vollzogen und das heißt hier im furchtbarsten Sinne des Wortes exekutiert werden. ....
In Gegensatz zu dieser Funktion der Stabilisierung, die Gesetze in allen normal funktionierenden Gemeinschaften haben, sind die totalitären Gesetze von vornherein als Bewegungsgesetze, als Gesetze, die einer Bewegung immanent sind, bestimmt. Positives Recht wird verletzt, weil es in eine dauernde Veränderung hineingerissen ist: was gestern Recht war, ist heute überholt und Unrecht geworden. (Juristisch gesprochen: aus jedem Gesetz ist eine Verordnung geworden.)....
....
In den von Marx und Darwin vorgezeichneten Ideologien handelt es sich keineswegs um einen Gegensatz zwischen Geschichte und Natur, sondern darum, dass sich ein unwiderstehlicher Bewegungsprozess sowohl der Natur wie der Geschichte bemächtigt hat.
Totalitäre Politik, die daranging, die Rezepte von Ideologien zu befolgen, hat das wahre Wesen dieser Bewegungen insofern entlarvt, als sie deutlich machte, dass es ein Ende des Prozesses nicht geben könne. .... Mit anderen Worten, das Gesetz des Tötens, wonach totalitäre Bewegungen die Macht antreten, bleibt bestehen als ein Gesetz der Bewegung, selbst wenn es ihnen je gelingen sollte, die ganze Menschheit unter ihre Herrschaft zu zwingen. ....
Wie der Gesetzesstaat positives Recht benötigt, um das unveränderliche ius naturale oder die ewigen Gebote Gottes oder die aus unvordenklichen Zeiten stammenden und darum geheiligten Gebräuche und Traditionen zu verwirklichen, so braucht totalitäre Herrschaft den Terror, um die Prozesse von Geschichte oder Natur loszulassen und ihre Bewegungsgesetze in der menschlichen Gesellschaft durchzusetzen. ....”
[Anmerkung: Francis Fukuyama schreibt im Handelsblatt vom 10feb2012 p52ff unter dem Titel "Aufstieg und Fall der Nationen":
"Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit besteht aus Gesetzen und Rechtsakten, die selbst für die mächtigsten politischen Akteure der Gesellschaft gelten. Wenn man ergründen möchte, wo diese Regeln herkommen, dann liegt die Antwort in den allermeisten Fällen in der Religion begründet. .... In der hinduistischen und muslimischen Welt genossen religiöse Rechtsgelehrte ebenfalls eine gewisse Unabhängigkeit. Allerdings wurde ihre Legitimation mit der fortschreitenden Modernisierung geschwächt.
In der arabischen Welt führte dies zu besonders tragischen Konsequenzen: Nach der Beendigung der Kolonialzeit im 20. Jahrhundert bildeten sich hier reine Exekutivgewalten heraus, die oft tyrannisch und korrupt waren. Deren Macht wurde durch kein Gesetz eingeschränkt. Die Rufe nach einer Scharia in muslimisch geprägten Ländern, die heute oft laut werden, sind keine rückwärtsgerichteten Forderungen, sondern entspringen dem Wunsch, dass Politiker denselben Gesetzen unterliegen wie alle anderen Staatsbürger. Der Begriff "Recht" in den Namen von islamistischen Parteien wie der AKP in der Türkei [Adalet ve Kalkınma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung] oder der PJD in Marokko bezieht sich nicht vornehmlich auf den Sozialstaat, sondern auf die Forderung nach der Einführung eines Gesetzes, welches die Macht der politischen Führung einschränkt." ]

p680: Nach Montesquieu hat die monarchie ihr wesen in gesetzlicher regierung mit macht in händen eines einzigen und handeln nach dem gesetz der ehre, beruhend auf wunsch nach auszeichnung. Die republik hat ihr wesen in verfassungsmäßiger regierung mit macht in den händen der mehrheit des volkes und handeln nach dem prinzip der tugend, beruhend auf der liebe zur gleichheit. Tyrannei hat ihr wesen in gesetzloser herrschaft, macht und willkür eines einzelnen; handlungsprinzip ist die furcht, ohne zu klären, woher diese rühre.
“Das Wesen totalitärer Herrschaft in diesem Sinne ist der Terror, der aber nicht willkürlich und nicht nach den Regeln des Machthungers eines einzelnen (wie in der Tyrannis), sondern in Übereinstimmung mit außermenschlichen Prozessen und ihren natürlichen oder geschichtlichen Gesetzen vollzogen wird. Als solcher ersetzt er den Zaun des Gesetzes, in dessen Umhegung Menschen in Freiheit sich bewegen können, durch ein eisernes Band, das die Menschen so stabilisiert, dass jede freie, unvorhersehbare Handlung ausgeschlossen wird. .... Sofern Natur und Geschichte Kräfte sind, denen bis zu einem gewissen Grad Menschen immer unterworfen sind, haben sie den Charakter der Notwendigkeit; versucht man, auf sie einen politischen Körper zu gründen, so hat man nicht nur die menschliche Freiheit aus dem politischen Bereich ausgeschaltet, sondern direkt das von Natur oder Geschichte Gezwungenwerden zur Grundlage des gesamten Lebens gemacht. Die Prozesse von Natur und Geschichte äußern sich politisch als Zwang und können nur durch Zwingen realisiert werden. .... Der Terror ist nicht ein Mittel zu einem Zweck, sondern die ständig benötigte Exekution der Gesetze natürlicher oder geschichtlicher Prozesse.”

p687: “Ideologien in ihrem Anspruch auf totale Welterklärung haben es erstens an sich, nicht das, was ist, sondern nur das, was wird, was entsteht und vergeht, zu erklären. ....”

p690: “Ihre [Hitlers und Stalins] eigentliche Originalität bestand darin, dass sie ideologische Aussagen buchstäblich ernst nahmen und dadurch in Konsequenzen jagten, von denen sich der gesunde Menschenverstand, der sich an der Wirklichkeit auch dann orientiert, wenn er von ihr eigentlich irregeführt wird, nichts hatte träumen lassen. Macht man damit ernst, dass im Kampf der Klassen es immer >>absterbende<< Klassen geben muss, so folgt daraus, dass man immer neue Gruppen der Gesellschaft ausrotten muss. ....”

p691: “Worauf die totalitären Herrschaftssysteme sich verlassen für die begrenzte Mobilisierung sich verhaltender Menschen, deren selbst sie nicht, oder noch nicht, entraten können, ist dieser Zwang durch den wir uns selbst zwingen, weil wir uns fürchten, uns selbst in Widerpsrüchen zu verlieren. Die Tyrannei des zwangsläufigen Schlussfolgerns, die unser Verstand jederzeit über uns selbst loslassen kann, ist der innere Zwang, mit dem wir uns selbst in den äußeren Zwang des Terrors einschalten und uns an ihn gleichschalten. Das einzige Gegenprinzip gegen diesen Zwang und gegen die Angst, sich selbst im Widersprechen zu verlieren, liegt in der menschlichen Spontaneität, in unserer Fähigkeit, >>eine Reihe von vorn anfangen<< zu können. Alle Freiheit liegt in diesem Anfangenkönnen beschlossen. Über den Anfang hat keine logische Argumentation je Gewalt, weil er aus keiner logischen Kette ableitbar ist, ja, von allem deduzierenden Denken immer schon vorausgesetzt werden muss, um das Zwangsläufige zum Funktionieren zu bringen. ....”

p692: “Die große Anziehungskraft, die das dem Terror entsprechende, sich selbst zwingende Denken auf moderne Menschen ausübt, liegt in seiner Emanzipation von Wirklichkeit und Erfahrung. Je weniger die modernen Massen in dieser Welt noch wirklich zu Hause sein können, desto geneigter werden sie sich zeigen, sich in ein Narrenparadies oder eine Narrenhölle abkommandieren zu lassen, in der alles gekannt, erklärt und von übermenschlichen Gesetzen im vorhinein bestimmt ist. ....”

p696: “Die Grunderfahrung menschlichen Zusammenseins, die in totalitärer Herrschaft politisch realisiert wird, ist die Erfahrung der Verlassenheit.
.... Luther sagt dort: >>Ein solcher (nämlich ein einsamer) Mensch folgert immer eins aus dem anderen und denkt alles zum ärgsten.<<”
p697: In der einsamkeit bin ich niemals wirklich allein, sondern mit mir selbst zusammen, mit diesem unbestimmten, und damit mit jedermann. Verlassen ist der aus der gemeinschaftlichen welt verstoßene.
p698: “Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit. ....”





Aus
Simone Weil, Die Verwurzelung - Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber

diaphanes, Zürich, 1. Auflage 2011
Original: L'Enracinement, Editions Gallimard, Paris, 1943
Es sind hier auch weitere Themen aus dem Werk aufgenommen, nicht lediglich die Arbeit betreffend. Seitenangaben in ( )
Zur Arbeit geht's
hier und insbesondere ab hier

(Erster Teil - Die Bedürfnisse der Seele)
(Die Ordnung)
Wer, um die Probleme zu vereinfachen, gewisse Pflichten leugnet, hat in seinem Inneren schon ein Bündnis mit dem Verbrechen geschlossen (14)
(Die Freiheit)     [s.a.u. (30) Meinungsfreiheit]
Unter diesen Bedingungen ist die Freiheit der Menschen, die guten Willens sind, zwar faktisch beschränkt, aber im Bewusstsein total. Da ihnen nämlich die Regeln in Fleisch und Blut übergegangen sind, treten die verbotenen Möglichkeiten gar nicht in ihrem Denken auf und brauchen nicht abgewiesen zu werden (16)
Wem der gute Wille fehlt oder wer immer ein Kind bleibt, ist niemals frei, in keinem Zustand der Gesellschaft (17)
(Der Gehorsam)
Da der Gehorsam für die Seele eine lebensnotwendige Nahrung darstellt, ist jeder krank, der ihn definitiv entbehrt. Und jedes Gemeinwesen, welches von einem unumschränkten Oberhaupt regiert wird, das niemandem Rechenschaft schuldet, befindet sich in den Händen eines Kranken. Wo ein Mensch sein ganzes Leben an der Spitze der gesellschaftlichen Organisation steht, darf er daher kein Oberhaupt, sondern muss ein Symbol sein, wie im Fall des Königs von England; es ist ebenso nötig, dass die Konventionen seine Freiheit mehr einschränken als die jedes anderen Menschen aus dem Volk (18)
(Die Gleichheit)
Wo es nur einen Wesensunterschied gibt, und keinen Unterschied im Grad, besteht keine Ungleichheit. Indem man aber das Geld zur einzigen oder fast zur einzigen Triebfeder für alle Handlungen, zum einzigen oder fast einzigen Maß aller Dinge macht, hat man das Gift der Ungleichheit überall ausgestreut. Es stimmt, dass diese Ungleichheit beweglich ist; sie haftet nicht an den Personen, denn Geld wird verdient und verloren; aber sie ist deswegen nicht weniger wirklich (21)
(Die Strafe) [s.a.u. bei Ehre (153)](
Wie die einzige Weise, vor dem Hungernden Achtung zu zeigen, die ist, dass man ihm zu essen gibt, so ist das einzige Mittel, dem, der das Gesetz übertreten hat, Respekt zu bezeugen, indem man ihn durch die vom Gesetz vorgeschriebene Strafe wieder in das Gesetz aufnimmt (24)
(Die Meinungsfreiheit)
Der Verstand ist besiegt, sobald der Äußerung der Gedanken explizit oder implizit das Wörtchen “wir” vorausgeht. Und wenn das Licht des Verstandes sich trübt, dann verirrt sich auch bald die Liebe zum Guten. Eine unmittelbare, praktische Lösung ist die Abschaffung der politischen Parteien .... die Einheitspartei, auf die dieser Kampf unvermeidlich hinausläuft, ist der äußerste Grad des Übels .... Eine Demokratie, in der das öffentliche Leben aus den Kämpfen der politischen Parteien besteht, ist unfähig, die Bildung einer einzigen Partei zu verhindern, deren Ziel die Zerstörung der Demokratie ist. Sie führt Ausnahmegesetze ein, sie erstickt sich selbst. Wenn sie das nicht macht, ist sie so sicher wie ein Vogel vor der Schlange (30 f)
Die römischen Herren stellten im Flur eine Peitsche auf, so dass die Sklaven sie sehen konnten, denn sie wussten, dass dies die Seelen in einen todähnlichen Zustand versetzte, der für die Sklaverei unentbehrlich ist. Umgekehrt musste ein gerechter Ägypter nach seinem Tod sagen können: “ Ich habe niemandem Angst gemacht” (36)

(Zweiter Teil - Die Entwurzelung)
Das Geld zerstört die Wurzeln überall, wo es eindringt, indem es alle Triebfedern durch das Gewinnstreben ersetzt. Es siegt mühelos über die anderen Triebfedern, denn es erfordert eine weit geringere Anstrengung der Aufmerksamkeit. Nichts ist so klar und einfach wie eine Zahl (44)
(Die Entwurzelung der Arbeiter)
Es gibt eine Position in der Gesellschaft, in der man vollkommen und immerfort dem Geld ausgeliefert ist, als Lohnempfänger nämlich, vor allem, seitdem jeder Arbeiter durch de Akkordlohn gezwungen wird, unausgesetzt seine Lohntüte im Kopf zu behalten .... Bernanos schreibt zwar, unsere Arbeiter seien zumindest keine Einwanderer wie die von Herrn Ford. Die hauptsächliche soziale Schwierigkeit unserer Zeit kommt aber daher, dass sie es in einem gewissen Sinne doch sind. Obwohl sie, geographisch betrachtet, immer am selben Ort bleiben, sind sie geistig entwurzelt, verbannt und dann, als seien sie nur geduldet, als Arbeitstiere wieder aufgenommen worden. Die Arbeitslosigkeit ist selbstverständlich eine potenzierte Entwurzelung. Die Arbeitslosen sind nirgends mehr zu Hause, weder in den Fabriken noch in ihren Unterkünften, noch in den angeblich für sie gegründeten Parteien oder Gewerkschaften, noch in den Vergnügungsstätten, noch in der intellektuellen Bildung, wenn sie versuchen, sich ihr zu nähern (44f)
(Entwurzelung der Nation)
Aber das totalitäre Phänomen des Staates besteht darin, dass die öffentlichen Gewalten das ihnen anvertraute Volk wie ein Eroberer unterdrücken, ohne ihm das Unglück ersparen zu können, das mit jeder Eroberung verbunden ist, um über ein besseres Instrument für die Eroberung nach außen zu verfügen (112f)
Es ist unannehmbar, dass ein Verstoß gegen die Ehre auf dieselbe Weise bestraft wird wie ein Diebstahl oder ein Mord. Wer sein Vaterland nicht mehr verteidigen will, soll nicht sein Leben oder seine Freiheit verlieren, sondern schlicht und einfach sein Vaterland (153)
Bernanos hat begriffen und ausgesprochen, dass mit dem Hitlerunwesen das heidnische Rom wiederkehrt (158)
Außerdem muss das Verbrechen des Missbrauchs eines öffentlichen Amtes strenger bestraft werden als bewaffneter Einbruchdiebstahl (166)

(Dritter Teil - Die Verwurzelung)
Der Krieg von 1870 zeigt, was Frankreich in den Augen der Welt galt. In diesem Krieg waren die Franzosen die Angreifer, trotz der List der Emser Depesche; diese List ist sogar der Beweis dafür, dass die Aggression von französischer Seite kam. Die Deutschen, uneins untereinander und noch zitternd in der Erinnerung an Napoleon, waren auf eine Invasion eingestellt. Sie waren sehr überrascht, als sie in Frankreich eindrangen wie in ein Stück Butter. Aber ihre Überraschung war noch größer, als sie plötzlich in den Augen Europas als die Schreckensgestalt dastanden, wo doch ihr einziger Fehler gewesen war, sich siegreich zu verteidigen. Aber das besiegte Land war Frankreich; und dies reichte, trotz Napoleon, aufgrund von 1789 dafür, dass die Sieger verabscheut wurden. .... Daher stammt vielleicht der Minderwertigkeitskomplex der Deutschen, diese dem Anschein nach widersprüchliche Mischung aus schlechtem Gewissen und dem Gefühl, man habe ihnen Unrecht getan, und ihrer grausamen Reaktion darauf. Auf jeden Fall trat von dem Moment an im europäischen Bewusstsein der Preuße an die Stelle dessen, was man bis dahin für den Deutschen gehalten hatte, das heißt des blauäugigen, träumerischen Musikers, des “gutmütigen”, vollkommen harmlosen Pfeifenrauchers und Biertrinkers, den man noch bei Balzac findet. Und Deutschland wurde nach und nach dem neuen Bild immer ähnlicher (180f)
Es stimmt, dass zwischen Talent und moralischem Verhalten keine Verbindung besteht; aber das liegt daran, dass dem Talent die Größe fehlt. Falsch ist, dass es keine Verbindungen zwischen der vollkommenen Schönheit, der vollkommenen Wahrheit, der vollkommenen Gerechtigkeit gibt; es bestehen mehr als Verbindungen, es besteht eine geheimnisvolle Einheit, denn es handelt sich um ein einziges Gut (216)
Die romanischen Kirchen und der gregorianische Gesang strahlen Heiligkeit aus. Monteverdi, Bach und Mozart waren reine Wesen in ihrem Leben wie in ihrem Werk. Wenn es Genies gibt, deren Genialität so rein ist, dass sie offenkundig der Größe der vollkommenen Heiligen nahekommt, warum soll man dann seine Zeit mit der Bewunderung anderer verlieren? (217)
Hitler hat sehr wohl erkannt, wie absurd die Auffassung des 18. Jahrhunderts ist, die noch heute gilt und deren Wurzel im Übrigen schon bei Descartes zu finden ist. Seit zwei oder drei Jahrhunderten glaubt man gleichzeitig, dass die Kraft die einzige Herrin aller Naturphänomene ist und dass die Menschen auf die Gerechtigkeit, die sie als Werkzeug der Venunft erkannt haben, ihre wechselseitigen Beziehungen gründen können und sollen. Das ist ein schreiender Widersinn. Es ist nicht vorstellbar, dass im Universum alles ausschließlich der Kraft unterworfen ist und dass der Mensch dem entzogen werden kann, wo er doch aus Fleisch und Blut besteht und sein ruheloses Denken den Sinneseindrücken unterliegt.
Hier ist eine Wahl zu treffen. Entweder man muss wahrnehmen, dass im Universum neben der Kraft noch ein anderes Prinzip wirkt, oder man muss die Kraft als einzige und unumschränkte Herrscherin auch über die menschlichen Beziehungen anerkennen. Im ersten Fall stellt man sich radikal gegen die gesamte moderne Wissenschaft, die von Galilei, Descartes und einigen andern begründet, im 18. Jahrhundert insbesondere von Newton, dann im 19. und 20. Jahrhundert von einigen anderen fortgeführt wurde. Im zweiten Fall stellt man sich radikal gegen den Humanismus, der in der Renaissance entsprang, 1789 triumphierte und in einer beträchtlich verkommenen Form den Geist der gesamten Dritten Republik bestimmte. Die Philosophie, die den laizistischen Geist und die radikale Politik inspirierte, ist gleichzeitig auf diese Wissenschaft und auf diesen Humanismus gegründet, die, wie man sieht, ganz offenkundig unvereinbar sind. Man kann also nicht sagen, der Sieg Hitlers über Frankreich im Jahre 1940 sei der Sieg einer Lüge über eine Wahrheit gewesen. Eine inkohärente Lüge wurde von einer kohärenten Lüge besiegt. Deshalb erlagen zugleich mit den Waffen auch die Geister.
Im Lauf der letzten Jahrhunderte spürte man verworren den Widerspruch zwischen Wissenschaft und Humanismus, obwohl man nie den intellektuellen Mut aufbrachte, ihm offen ins Auge zu sehen. Man versuchte ihn zu lösen, ohne ihn vorher betrachtet zu haben. Eine solche geistige Unredlichkeit rächt sich immer mit einem Irrtum.
Die Frucht eines dieser Versuche war der Utilitarismus. Es wird ein wunderbarer kleiner Mechanismus angenommen, mit dessen Hilfe die Kraft, sowie sie in der Späre der menschlichen Beziehungen tritt, automatisch Gerechtigkeit erzeugt (222 f)
Ein Mensch, der sich die Mühe macht, eine Apologie der Sklaverei auszuarbeiten, liebt die Gerechtigkeit nicht (225)
Aber als die christliche Religion offiziell vom Römischen Reich übernommen wurde, stellte man den unpersönlichen Aspekt Gottes und der Göttlichen Vorsehung in den Schatten. Man machte aus Gott einen Doppelgänger des Kaisers. Dies konnte leicht geschehen, aufgrund der jüdischen Strömung, von der sich das Christentum wegen seiner historischen Herkunft nicht zu läutern vermocht hatte. In den Texten aus der Zeit vor dem Exil hatte Jehova zu den Hebräern juristisch gesehen das Verhältnis eines Herrn zu seinen Sklaven. [Exodus 2 / Israelstele: Auszug der Israeliten aus Ägypten während der Regierungszeit des Merenptah, Nachfolger Ramses II, 1213 bis 1204 vChr. Ab 587vChr Zerstörung Jerusalems, Beginn des Babylonischen Exils] Sie waren die Sklaven des Pharao; Jehova, der sie aus den Händen des Pharao befreit hatte, war diesem rechtlich nachgefolgt. Sie sind sein Eigentum, und er herrscht über sie, wie irgend ein Mensch über seine Sklaven herrscht, nur dass er über eine umfassendere Auswahl an Belohnungen und Strafen verfügt. Er befiehlt ihnen unterschiedslos Gutes und Böses, aber viel häufiger Böses, und in beiden Fällen müssen sie ihm gehorchen. Es spielt keine große Rolle, dass sie den niedrigsten Triebfedern folgend gehorsam sind, wenn nur die Befehle ausgeführt werden. Diese Auffassung entsprach genau dem Herz und dem Verstand der Römer. Bei ihnen hatte sich der Geist der Sklaverei in alle menschlichen Beziehungen eingeschlichen und sie verdorben (250f)
Was im Kult des Kaisers vergöttlicht wurde, war also nichts anderes als die Institution der Sklaverei. Millionen von Sklaven verehrten götzendienerisch ihren Besitzer. Genau das bestimmte die Haltung der Römer in Fragen der Religion. Es hieß, sie seien tolerant. Sie tolerierten tatsächlich alle religiösen Praktiken ohne geistigen Inhalt. Es ist wahrscheinlich, dass Hitler, wenn es ihm einfiele, ohne Gefahr die Theosophie dulden könnte. Die Römer konnten ohne weiteres den Mithra-Kult tolerieren als orientalischen Humbug für Snobs und Frauen, die nichts zu tun hatten. Ihre Toleranz machte zwei Ausnahmen. Einmal konnten sie natürlich nicht ertragen, dass jemand, wer auch immer, sich Besitzrechte auf ihre Sklaven anmaßte. Daher kam ihre Feindseligkeit gegen Jehova. Die Juden waren ihr Eigentum und konnten keinen anderen menschlichen oder göttlichen Besitzer haben. Es handelte sich daher um einen Streit zwischen Sklavenhaltern. Aus Angst um ihr Prestige und um durch ein Experiment zu zeigen, dass sie die Herren seien, töteten sie beinahe das gesamte menschliche Vieh, dessen Besitz umstritten war. Die andere Ausnahme bezog sich auf das spirituelle Leben. Die Römer konnten nichts dulden, das reich an spirituellem Gehalt war. Die Liebe zu Gott ist ein gefährliches Feuer, dessen Berührung ihrer erbärmlichen Vergötzung der Sklaverei zum Verhängnis werden konnte. So zerstörten sie gnadenlos das spirituelle Leben in allen seinen Formen. .... Trotzdem war ihnen bei ihrem grobschlächtigen Götzendienst nicht ganz wohl. Wie Hitler wussten sie um den Wert einer vorgetäuschten geistigen Hülle. Sie hätten gern die äußere Schale einer echten religiösen Tradition übernommen, um damit ihren allzu sichtbaren Atheismus zu verdecken. Auch Hitler würde gern eine Religion finden oder stiften (254 f)
Weder der Begriff der Pflicht noch der des Rechts lässt sich auf Gott anwenden, aber der des Rechts unendlich weniger. Denn der Begriff des Rechts ist unendlich weiter vom wahren Guten entfernt. Er ist eine Mischung aus Gut und Böse; denn der Besitz eines Rechts enthält die Möglichkeit, es zum Guten wie zum Bösen zu verwenden. Im Gegensatz dazu ist die Erfüllung einer Pflicht immer bedingungslos ein Gut in jeder Hinsicht. Deshalb begingen die Leute von 1789 einen so verhängnisvollen Fehler, als sie den Begriff des Rechts zu ihrem geistigen Prinzip erhoben. Ein unumschränktes Recht ist das Recht des Eigentums nach der römischen Auffassung oder jeder anderen, die im Wesentlichen mit ihr identisch ist. Gott ein unumschränktes Recht ohne Pflichten zuzuschreiben heißt das unendliche Äquivalent eines römischen Sklavenhalters aus ihm machen. Das erlaubt nur eine sklavische Ergebenheit. Die Ergebenheit eines Sklaven ist für den Menschen, der ihn als sein Eigentum betrachtet, etwas Niedriges. Die Liebe, die einen freien Menschen antreibt, sich mit Leib und Seele dem hinzugeben, der das vollkommene Gut darstellt, ist das Gegenteil einer sklavischen Liebe (257)
Gott verletzt die Weltordnung, um daraus nicht das entspringen zu lassen, was er erzeugen will, sondern die Ursachen, die das, was er erzeugen will, als Wirkung haben (258)
Das Gut, das der Mensch im Universum zu beobachten vermag, ist endlich, begrenzt. Versucht man also, darin Anzeichen göttlichen Handelns zu finden, macht man Gott selbst zu einem endlichen, begrenzten Gut. Das ist Blasphemie (259)
Jede Interpretation der Geschichte im Sinne der Vorsehung kann sich nur genau auf diesem Niveau der Dummheit bewegen (260)
Als dieRömer glaubten, den Stoizismus entehren zu müssen, indem sie ihn übernahmen, ersetzten sie selbstverständlich die Liebe durch eine Gefühllosigkeit, deren Grundlage der Stolz war. Daher kommt das heute noch bestehende Vorurteil eines Widerspruchs zwischen Stoizismus und Christentum, während sie in Wirklichkeit geistige Zwillinge sind. Sogar die Namen der Personen der Dreifaltigkeit - Logos, Pneuma - sind dem Vokabular der Stoa entlehnt. Die Kenntnis gewisser Theorien der Stoa wirft ein lebendiges Licht auf mehrere rätselhafte Stellen des Neuen Testaments. Zwischen den beiden Denkformen fand ein Austausch statt, der auf ihre geistige Verwandtschaft zurückgeht. In der Mitte der beiden stehen die Demut, der Gehorsam und die Liebe. Doch verschiedene Texte weisen daruf hin, dass das stoische Denken sich über die gesamte antike Welt bis in den Fernen Osten ausgebreitet hatte. Die ganze Menschheit lebte einst in der strahlenden Helle des Gedankens, dass das Universum, in dem wir uns befinden, nichts anderes ist als der vollkommende Gehorsam. Die Griechen berauschte es, in der Wissenschaft eine offenkundige Bestätigung dafür zu finden, und das war der Beweggrund ihrer Begeisterung für sie (268)
Jasagen zur körperlichen Arbeit ist nach dem Jasagen zum Tod die vollkommenste Form der Tugend des Gehorsams. Der Strafcharakter der Arbeit, der im Bericht der Genesis bezeugt wird, ist falsch verstanden worden, da kein richtiger Begriff der Strafe da war. Zu Unrecht liest man aus diesem Text eine verächtliche Nuance der Arbeit gegenüber heraus. Es ist wahrscheinlicher, dass er, dieser Text, von einer uralten Kultur überliefert wurde, in der die körperliche Arbeit mehr als jede andere Tätigkeit in Ehren stand. Verschiedene Zeichen weisen darauf hin, dass es eine solche Kultur gegeben hat, dass vor langer, langer Zeit die körperliche Arbeit in erster Linie eine religiöse Tätigkeit und infolgedessen etwas Heiliges war .... Auf jeden Fall gehen in allen religiösen Überlieferungen des Altertums, inbegriffen das Alte Testament, die Handwerke auf eine direkte Unterweisung Gottes zurück .... Weder bei Homer noch bei Hesiod noch in der griechischen Klassik noch in dem Wenigen, das wir von den anderen Kulturen des Altertums wissen, finden wir eine Spur davon [von diesem Wissen um die Heiligkeit der Ausübung eines Handwerkes]. In Griechenland war die Arbeit etwas für Sklaven .... Ganz zu Anfang des klassischen Griechenlands sehen wir eine Kulturform zu Ende gehen, in der außer der körperlichen Arbeit alle menschlichen Tätigkeiten heilig waren; in der sich Kunst, Dichtung, Philosophie, Wissenschaft und Politik sozusagen nicht von der Religion unterschieden. Ein oder zwei Jahrhunderte später waren alle diese Tätigkeiten durch einen für uns nicht klar erkennbaren Mechanismus, bei dem jedenfalls das Geld eine große Rolle spielte, ausschließlich profan geworden und hatten jegliche Inspiration eingebüßt. Das bisschen Religion, das übriggeblieben war, wurde an die für den Gottesdienst vorgesehenen Stätten verwiesen. Platon war in seiner Zeit ein Relikt einer schon fernen Vergangenheit. Die griechischen Stoiker waren eine Flamme, die aus einem noch lebendigen Funken derselben Vergangenheit entsprang. Die Römer, eine atheistische und materialistische Nation, vernichteten die Überreste des spirituellen Lebens in den von ihnen besetzten Gebieten durch Ausrottung; sie übernahmen das Christentum nur, indem sie es seines spirituellen Gehaltes entleerten. Unter ihrer Herrschaft war jede menschliche Tätigkeit ausschließlich Sklavenarbeit; und schließlich nahmen sie der Institution der Sklaverei jede Wirklichkeit, was deren Verschwinden vorbereitete, indem alle menschlichen Wesen auf den Stand von Sklaven herabgewürdigt wurden (273ff)
Der Begriff der Orthodoxie trennte den Bereich des Seelenheils, welcher der einer absoluten Unterwerfung des Denkens unter eine äußere Autorität ist, und den Bereich der sogenannten profanen Dinge, in dem der Verstand frei ist, streng voneinander, wodurch er die gegenseitige Durchdringung des Religiösen und des Profanen unmöglich machte, die das Wesen einer christlichen Kultur wäre. Vergebens wird täglich in der Messe dem Wein ein wenig Wasser beigemischt (276)
Wenn ein Mensch durch ein Vergehen den Kreis des Guten verlassen hat, dann besteht die wahrhafte Strafe darin, ihn durch das Mittel des Schmerzes wieder in die Fülle des Guten zurückzuführen. Nichts ist so wunderbar wie eine Strafe. Der Mensch hat den Kreis des Gehorsams verlassen. Gott hat als Strafen die Arbeit und den Tod gewählt. Infolgedessen bilden die Arbeit und der Tod, wenn der Mensch sie erduldet und sie zustimmend erduldet, eine Überführung in das höchste Gut des Gottesgehorsams (277)
Die körperliche Arbeit ist ein täglicher Tod .... Das menschliche Denken herrscht über die Zeit, er durcheilt pausenlos Vergangenheit und Zukunft und überwindet jegliche Zwischenräume; aber wer arbeitet, ist der Zeit unterworfen wie die träge Materie, die einen Augenblick nach dem anderen überwindet. In diesem Sinne vor allem tut die Arbeit der menschlichen Natur Gewalt an. Darum sagen die Arbeiter über das Leiden der Arbeit, dass ein Tag sehr lange ist. Das Jasagen zum Tod, wenn der Tod gegenwärtig ist und unverhüllt erscheint, ist das äußerste, augenblickliche Losreißen von dem, was jeder sein Ich nennt. Das Jasagen zur Arbeit ist weniger gewaltsam. Aber wenn es vollständig ist, wird es jeden Morgen erneuert, ein ganzes menschliches Dasein lang. Tag für Tag, und jeden Tag dauert es bis zum Abend, und am nächsten Tag fängt es wieder an und das geht oft so weiter bis zum Tod. Jeden Morgen sagt der Arbeiter für diesen Tag und für das ganze Leben ja zur Arbeit. Er sagt ja, egal ob er traurig oder froh ist, besorgt oder vergnügungssüchtig, müde oder voll überschüssiger Energie. Unmittelbar nach dem Jasagen zum Tod ist das Jasagen zum Gesetz, das die Arbeit zur Erhaltung des Lebens unerlässlich macht, er vollkommenste Akt des Gehorsams, den der Mensch zu erfüllen hat. Daher stehen die anderen menschlichen Tätigkeiten, Menschenführung, Ausarbeitung technischer Pläne, Kunst, Wissenschaft, Philosophie und so fort, in ihrer geistigen Bedeutung sämtlich unter der körperlichen Arbeit. Leicht ist die Stelle zu definieren, die in einem gut geordneten gesellschaftlichen Leben die körperliche Arbeit einnehmen soll. Sie muss dessen geistige Mitte sein (278f) - Ende -





Aus
Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben

W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1960
(english “The Human Condition”, University of Chicago Press, Chicago 1958)

Die Seitenzählung folgt bis Seite 96 der Ausgabe des W. Kohlhammer Verlages, Stuttgart von 1960 (Notation der Form `pk11'), danach der Ausgabe des Piper Verlages, München und Zürich, 5. Auflage Januar 2007, ISBN-10: 3-492-23623-5 (Notation der Form `p111')
Notationen “p59u” meinen: auf Seite 59 unten (oben/mitte)

Einleitung

pk11 = p12u: “Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln. ... Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?”
[
Hier findet sich eine Fortsetzung dieses Gedankens: p157]

1 - Die menschliche Bedingtheit

[Zusammenfassung bis p41: Die Griechen sahen die Polis als einen Weg aus dem privaten Dunkel in das Licht der Freiheit. Die Neuzeit flieht aus der Verpflichtung des Gesellschaftlichen in die Sicherheit des eigenen (idion) intimen Lebens. Die Familie stirbt, ihre Funktionen werden von der Gesellschaft übernommen. ]
[Siehe dringend ergänzend hier und andernorts bei Alexander Mitscherlich]
pk18f: Das wort Vita activa findet sich erst in der mittelalterlichen Philosophie zur übersetzung des Aristotelischen `bios politikos' ins lateinische. “.... liegt der Hauptunterschied ... darin, dass Aristoteles damit ausdrücklich nur den Bereich des im eigentlichen Sinne Politischen meinte, und mit ihm das Handeln als die im eigentlichen Sinne politische Tätigkeit. Im Sinne der Griechen konnten weder Arbeiten noch Herstellen überhaupt einen ,,bios" bilden, das heißt eine Lebensweise, die eines freien Mannes würdig ist und in der sich Freiheit manifestiert ... weil ... das eigentlich Politische keineswegs notwendigerweise entstand, wo immer Menschen in geordneten Verhältnissen zusammenleben ... gerade weil für menschliches Zusammenleben Organisation notwendig ist, galt ihnen ein solches bloßes Organisiertsein noch nicht als politisch ....”
pk20: Mit dem verschwinden des antiken stadt-staates wurde die politische vita activa mehr und mehr zu einer bezeichnung für alle arten von aktiver beschäftigung mit den dingen der welt. Allein die vita contemplativa blieb damit von den drei Aristotelischen möglichkeiten des ,,schönen Lebens" übrig (genuss des körperlich schönen / schaffung schöner taten in der polis / kontemplativer aufenthalt des philosophen im immerwährend schönen)
pk24: Aufgabe und mögliche größe der sterblichen liegt im vermögen, dinge - werke, taten, worte - hervorzubringen die einen platz im kosmos des immerwährenden verdienen und damit dem einzig vergänglichen menschen einen platz in der ordnung des unvergänglichen zuweisen können.
pk26: Der untergang des [ewigen] römischen reiches und die botschaft des christentums, jeder mensch lebe von nun an ewiglich stellte folgerichtig das ende der existenz der antiken religionen dar, die ja umgekehrt auf des menschen sterblichkeit und dem streben nach möglicher unsterblichkeit der von ihm geschaffenen welt beruht hatten

2 - Der Raum des Öffentlichen und der Bereich des Privaten

pk28f: Wenn also Thomas [von Aquin] sagt: homo est naturaliter politicus, id est sozialis - der mensch ist von natur politisch, das heißt gesellschaftlich, ist dies ein großer Abfall vom ursprünglichen Sinn es Begriffes “politisch”:
Das Wort “sozial” gibt es im Griechischen nicht; es bedeutet bei den Römern ein Bündnis zwischen Menschen zur Erreichung eines bestimmten Zweckes, zBsp Erlangung der Herrschaft, Begehen eines Verbrechens. (Anm 11: Das deutsche Wort “Gesellschaft” setzt sich zusammen aus der Gemeinschaftsbeziehungen bezeichnenden Vorsilbe “ge” und dem Wort für das germanische Einraumhaus “Saal”, bedeutet also “Saalhausgemeinschaft”)
Zur Gründung der Polis wurden alle anderen Verbände abgeschafft;
jedermann lebte fortan in zwei Welten: der privaten, der politischen. Von allen Tätigkeiten im Zusammenleben sind nur zwei politisch: Handeln und Reden, sie begründen den Bereich “menschliche Angelegenheiten” (Platon), aus dem alles nur notwendige oder nur nützliche ausgeschlossen ist.
Bereits sprechen ist handeln, nur Gewalt ist stumm und kann damit auch niemals Größe haben. Damit bedeutet, politisch zu sein, alle Angelegenheiten mit Worten zu regeln, nicht mit Gewalt.
pk32: Da dem schieren Überleben des Einzelnen und der Gattung dienend, war die Ökonomie nicht-politisch
pk34: Der private Haushalt ist Macht, Schrecken, Ungleichheit, die Polis ist Gleichheit, Befehlslosigkeit, Ungezwungenheit
pk35: Die Kluft zwischen Haushalt und politischem Leben verschwindet in der Neuzeit, der private Bereich verschlingt den Öffentlichen.
pk36: Charakteristisch hierfür: in der Polis ist das Verhältnis Herr / Diener Privatsache [ungesetzlich] - der Feudalherr andererseits spricht Recht innerhalb der Grenzen seiner Herrschaft.
pk37f: Mut ist eine politische Kardinaltugend - die Sicherheit des Privaten muss aufgegeben werden.
pk39: Für die Polis galt: wer nur privat war, war nicht eigentlich Mensch sondern nur Exemplar der Gattung.
pk39f = p48f: Jean-Jaques Rousseau rebelliert gegen die nivellierenden Züge der Gesellschaft, gegen den von ihr erzeugten Konformismus. (pk40m = p50m:) `Das auffallende Zusammenfallen des Aufstiegs des Gesellschaftlichen mit dem Verfall der Familie weist deutlich darauf hin, dass die Gesellschaft ihre Entstehung unter anderem dem verdankt, dass die Familie von den Gruppen absorbiert wurde, die ihr jeweils sozial entsprachen, d.h. mit denen sie sich ungefähr auf dem gleichen Lebensniveau befand.' Die Gleichheit der Familienglieder anstatt des Sich-unter-seinesgleichen befinden der freien Glieder der Polis.
pk41: Ebenso wie Familie und Haushalt schließt die Gesellschaft das Handeln aus - an seine Stelle tritt das Sich-verhalten nach zahllosen normierenden Regeln.
pk42: Während in der polis die `gleichen' im wettstreit leben, jeder zeigt, was er außerordentliches leisten kann, herrscht in der gesellschaft die normierung.
pk43: Die statistik als gesetz der großen zahl lässt das gesellschaftliche über das politische element einer gesellschaft triumphieren je mehr glieder sie hat. Die polis hatte die zahl ihrer glieder stets bewusst in grenzen gehalten.
pk47o = p59m: “Die Gesellschaft ist die Form des Zusammenlebens, in der die Abhängigkeit des Menschen von seinesgleichen um des Lebens selbst willen und nichts sonst zu öffentlicher Bedeutung gelangt, und wo infolgedessen die Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen, in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen Raumes bestimmen dürfen.”
Ob eine tätigkeit privat oder öffentlich ausgeübt wird, erzeugt unterschiede; im falle der arbeit wurde aus einem monoton wiederkehrenden kreisprozess eine rapide fortschreitende entwicklung, was die gesamte bewohnte welt in wenigen jahrhunderten totel verwandelt hat.
pk48o = p60u: “Dies Prinzip [der Organisation] aber ist offensichtlich nicht im Privaten, sondern im Öffentlichen beheimatet; Arbeitsteilung [im modernen Sinne der Aufteilung eines Prozesses] und die ihr folgende Steigerung der Arbeitsproduktivität ist eine Entwicklung, die die Arbeit nur unter der Bedingung des Öffentlichen nehmen konnte und zu der sie es niemals im privaten Haushaltsbereich gebracht haben würde.”
   Anm40: alle worte für arbeit in den europäischen sprachen bedeuten ursprünglich ,,mühsal" i.S. einer unlust und schmerz verursachenden körperlichen anstrengung, und bezeichnen auch die geburtswehen.
Arbeit aus notwendigkeit als mühe und plage geboren wandelt sich im öffentlichen bereich in etwas, worin vortrefflichkeit erreicht werden kann [was ursprünglich der freien polis vorbehalten war]. Die vervollkommnung der arbeit geht einher mit dem niedergang der privaten / intimen fähigkeiten zu sprechen und zu handeln, benannt als “nachhinken” der allgemeinen menschlichen entwicklung hinter der technischen.
pk49: “Keine psychologisch erfassbaren Eigenschaften, die man erziehen oder heranzüchten könnte, weder Begabungen noch Talente können das ersetzen, was das Öffentliche konstituiert und es zu dem weltlichen Raum macht, in dem Menschen sich auszeichnen und das Vortreffliche die ihm gebührende Stätte finden kann.” Dies sehen die gesellschaftswissenschaften nicht in ihrer ausschließlich psychologischen interpretation menschlicher existenz.
pk53: Die frühe christliche gemeinde von brüdern in gemeinsamer sorge um das eigene seelenheil folgt strukturell dem leben in der familie. Dennoch waren selbst mönchische gemeinschaften bedroht von der entstehung eines inneren, mit vortrefflichkeit und stolz füllbaren öffentlichen raumes - eben weil ihre, wenn auch nur lebensnotwendigen, tätigkeiten unter den augen der gemeinschaft vor sich gingen.
pk55 Das beste zeugnis für das absterben des öffentlichen bereiches in der neuzeit ist das nahezu vollständige verschwinden echter sorge um die erlangung der unsterblichkeit.
pk57u = p73o: “Eine gemeinsame Welt verschwindet wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven.”
Das privatleben [von lat. privare, berauben] ist wesentlicher menschlicher dinge beraubt; denn eben im gesehen- und gehörtwerden entsteht die wirklichkeit.
pk58: Hieraus ergeben sich realitätsverlust und verlassenheit der neuzeit.
pk60 (evtl 59) = p76u: “In dem Streit zwischen Kapitalismus und Sozialismus wird meist vergessen, dass es der Kapitalismus war, der mit Enteignung angefangen hat, und dass der Sozialismus in dieser Hinsicht nur dem Gesetz folgt, nach dem die gesamte Wirtschaftsentwicklung der Neuzeit angetreten ist. Vor der Enteignung der unteren Schichten der Bevölkerung zu Beginn der Neuzeit ist die Heiligkeit des Privateigentums immer etwas selbstverständliches gewesen; aber erst der enorme Zuwachs an Besitz, Reichtum und eben Kapital in den Händen der enteignenden Schichten hat dazu geführt, privaten Besitz überhaupt für sakrosankt zu erklären. Eigentum war ursprünglich an einen bestimmten Ort in der Welt gebunden und als solches nicht nur >>unbeweglich<<, sondern identisch mit der Familie, die diesen Ort einnahm. Deshalb konnte auch noch im Mittelalter die Verbannung die Vernichtung und nicht nur die Konfiskation des Eigentums nach sich ziehen. ....”
Nach der Erfindung der Polis kann Privatbesitz politische Bedeutung gewinnen als Garant für die bleibende Freiheit des Mitgliedes. Es war aber auch klar: wer seinen Besitz zu vermehren beabsichtigt, verzichtet freiwillig auf seine Freiheit und wird Knecht der Notwendigkeit.
“Vielmehr ist der Akkumulationsprozess des Kapitals in der modernen Gesellschaft überhaupt nur dadurch in Gang gekommen, dass man das Eigentum nicht mehr achtete. .... auf Privateigentum gerade hat dieser Prozess niemals Rücksicht genommen, sondern es immer und überall enteignet, wo es mit der Akkumulation des Kapitals in Konflikt geriet. Proudhons Diktum, dass Eigentum Diebstahl sei, enthält eine Wahrheit, die bis in die Ursprünge des Kapitalismus reicht. Allerdings ist nicht das Eigentum Diebstahl gewesen, wohl aber ist in der modernen Gesellschaft Kapital aus Diebstahl am Eigentum entstanden.” ....
pk64o = p81m: “Denn es liegt im Wesen dieser Gesellschaft, dass das Private in jeglicher Form der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte nur im Wege stehen kann, und vor dieser Tatsache, die nicht eine Erfindung von Marx ist, weichen alle Rücksichten auf Privateigentum, das Platz machen muss einem immer noch wachsenden gesellschaftlichen Reichtum.
....
Wollte man das Entstehen der Gesellschaft historisch datieren, so müsste man sich auf den Augenblick einigen, in dem Privatbesitz aufhört, ein privates Anliegen zu sein, und anfängt eine öffentliche Angelegenheit zu werden. Die Gesellschaft erschien in der Sphäre des Öffentlichen erst einmal in Gestalt von Besitzern, die aber nun nicht auf Grund ihres Reichtums die ihnen zukommende Stimme in öffentlichen Angelegenheiten verlangten, sondern im Gegenteil sich zusammengefunden hatten, um zum Zwecke der Erwerbung von mehr Reichtum den Anspruch zu erheben, aller Verantwortlichkeiten öffentlich-politischer Natur enthoben zu werden. Das Regieren, in den Worten Bodins, war eine Sache des Königs und das Besitzen eine Sache der Untertanen; Pflicht des Königs war es, so zu regieren, dass die Besitzinteressen der Untertanen gewahrt und geschützt wurden; es handelte sich nicht darum, dass die Besitzenden das Regieren zu übernehmen wünschten, sondern dass die jeweilige Regierung im Interesse der besitzenden Klassen regierte. >>The commonwealth largely existed for the common wealth<<.”
pk67: ”Das eigentlich Bedrohliche an dieser Entwicklung aber ist nicht die Abschaffung des Privatbesitzes, die ohnehin unaufhaltsam ist auch in den Ländern mit angeblich kapitalistischer Wirtschaft, sondern die Abschaffung des Privateigentums, also jener Enteignung, die den Menschen von dem immer begrenzten, dafür aber greifbaren und handhabbaren Stück Welt trennt, das er sein eigen nennt, weil es dem, was ihm eigen ist, allein dient.
.... Ohne Eigentum, wie Locke sagte, können wir mit dem Gemeinsamen nichts anfangen, es ist >>of no use<<.”
pk69o = p88o: “Der Unterschied zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich läuft letztlich auf einen Unterschied zwischen Dingen, die für die Öffentlichkeit und denen, die für die Verborgenheit bestimmt sind, hinaus. .... Frauen und Sklaven gehörten zusammen, zusammen bildeten sie die Familie, und zusammen wurden sie im Verborgenen gehalten, aber nicht einfach, weil sie Eigentum waren, sondern weil ihr Leben >>arbeitsam<< war, von den Funktionen des Körpers bestimmt und genötigt.” [Sklaven: durch die Notdurft der Lebenserhaltung, Frauen: durch die Notwendigkeit der Arterhaltung] ....
Proletarii (lat.) die Kindererzeuger
pk69f: “Die Arbeit, wie die ihr ja so eng verwandte Armut, wurde bekanntlich in den Anfangsstadien der modernen Entwicklung, als die werdende Gesellschaft sie ihres natürlichen Schutzes bereits beraubt hatte, der öffentliche Raum aber noch nicht auf die Entprivatisierung des Privaten vorbereitet war, wie ein Verbrechen behandelt; beiden haftete noch die Scham an, mit der auch wir unsere körperlichen Funktionen allen Blicken entziehen, und ihre politische Sichtbarkeit erweckte in jedem, der >>noch wusste was sich gehört<<, ein Gefühl der Empörung.”
pk70ff: Ein Beispiel für die Bedeutung des Ortes, wo Tätigkeit stattfindet, privat versus öffentlich, bietet die Güte: Gutes tun muss verborgen bleiben, sonst wird es scheinheilig, i.e.S. darf der gut Handelnde nicht einmal darum wissen.
Liebe zur Weisheit: verlässt die Höhle der Menschen (Platon), wird Philosoph in der Einsamkeit
pk73u: Liebe zum guten kann nicht in der einsamkeit sein, doch darf das leben des guten von keinem bezeugt werden, und damit ist er allein, lebt mit den anderen, muss sich aber vor ihnen verbergen, ist verlassen, darf sich nicht einmal, anders als der philosoph, selbst gesellschaft sein - nur gott ist sein zeuge. In der antike durften nur die götter gut/gütig sein. Der bezug der tätigen güte zur welt ist wesentlich aktiv negativ. Wie das verbrechen muss das gute werk sich vor den menschen verbergen (cf Macchiavelli, Il Principe, Kapitel 15)

3 - Die Arbeit

pk77 = p99 Anm 3: Das Griechische wie das Lateinische (laborare - facere/fabricari), das Französische, Englische und Deutsche enthalten zwei deutlich getrennte Worte für Arbeiten und Werken, wobei in allen Fällen in `Arbeit' die Nebenbedeutung von Not und Mühe deutlich hervortritt: im deutschen `arbeiteten' ursprünglich nur die Leibeigenen in der Landwirtschaft, die Handwerker `werkten'. Das Französische `travailler' ersetzte ein `labourer', ist aber selbst abgeleitet von `tripalium', einer besonderen Art von Folter
pk79o = p101u: “Im Altertum war die Einrichtung der Sklaverei nicht wie später ein Mittel, sich billige Arbeit zu verschaffen oder Menschen zwecks Profit >>auszubeuten<<, sondern der bewusste Versuch, das Arbeiten von den Bedingungen auszuschließen, unter denen Menschen das Leben gegeben ist. Was dem menschlichen Leben mit anderen Formen tierischen Lebens gemeinsam ist, galt als nicht-menschlich. Dies ist natürlich auch der Grund, warum man annehmen konnte, die Sklaven hätten eine nicht-menschliche Natur.”
pk79u = p103o: Mit dem aufkommen der politischen philosophischen theorien wurde alle tätigkeit zum gegensatz der kontemplation, auch die höchste aller tätigkeiten, das handeln, und damit die cura rei publicae in das reich der notwendigkeit degradiert.
pk82ff = p105ff: Steht antik die (haus- und gesinde)arbeit unproduktiv, da spurenlos (obwohl keine unterscheidung zwischen arbeit und werk gemacht wird [cf kontemplation, pk77]) im gegensatz zur produktion von aufhebenswerten gegenständen, wird in einer vollkommen “gesellschaftlichen Menschheit” mit dem einzigen anliegen der aufrechterhaltung der lebensprozesse [ende der geschichte erreicht] kein unterschied sein zwischen arbeiten und herstellen - alles ist resultat der lebendigen arbeitskraft als funktion des lebensprozesses. Arbeitsteilung [s.o.] zerlegt arbeit in kleinste bestandteile, die gelernte arbeit wird abgeschafft, nicht fertigkeit sondern arbeitskraft wird auf dem arbeitsmarkt angeboten, wovon jeder mensch in etwa gleich viel besitzt
Kopfarbeiter - intellektuelle - sind arbeiter im sinne des hausgesindes, denn ihre produkte und dienstleistungen werden konsumiert; sie haben nicht die verwandtschaft zu handwerker und künstler, welche der welt beständiges hinzufügen [handwerker - kopfarbeiter]
p93u: Marx bestimmt Menschen als `Animal laborans', ein arbeitendes Lebewesen
p95: Marx' Widerspruch: Arbeit als Naturnotwendigkeit, von allen Gesellschaftsformen unabhängig, als Existenzbedingung, aber die ideale Gesellschaftsordnung ist die ohne Arbeit - das größte und menschlichste Vermögen läge brach. Auch setzt er produktive Knechtschaft versus unproduktive Freiheit
p96o = 124o: Das beunruhigendste phänomen der politischen Theorie seit Mitte des 17. Jahrhunderts ist das Wachstum von Reichtum, Besitz, Erwerb. Die Lösung: dies verstehen als einen Prozess - am naheliegendsten: Arbeit ist ebenso `organisch' wie das Leben selbst, frei von willentlichen Entscheidungen und vorgefassten Zwecken
(p125u:) Marx sieht Produktivität und Zeugen/Zeugung als zwei Formen desselben “seid fruchtbar und mehret euch”
(p126o/anm53:) Anders das Alte Testament: Arbeit ist kein Übel. Adam = männliche Form von adamah = Acker; also ist Adam der zur Bedienung des Ackers Eingesetzte. Vertreibung aus dem Paradies: nicht die Arbeit ist der Fluch, sondern die neue Beschwernis der Arbeit. In diesem Sinne ist der Segen des arbeitsamen Lebens die Lust aus dem Rhythmus aus Mühsal und Lohn, gleichmäß wie die Zubereitung von Speise und ihr Verzehr
(p130o:) Die Verteidigung des Privateigentums in der Neuzeit meinte nicht das Eigentum an sich, sondern das Recht des ungehinderten, durch keine Erwägungen zu begrenzenden Erwerbs; so ist der Kampf Marx' gegen das Eigentum zu verstehen
(p130u:) selbst in einer “vergesellschafteten menschheit” wird manches als unbezweifelbar “privat”respektiert - von lebensprozessen selbst diktiertes: essen, ausscheiden, fortpflanzen
(p134o:) Schmerz und seine Empfindung sind die einzigen von der Welt unabhängigen Erfahrungen ... Die einzige Tätigkeit, die dieser “Weltlosigkeit” entspricht ist die Arbeit in deren Tun der menschliche Körper auf sich selbst zurückgeworfen ist
(p135m:) “Das Eigentum verstärkt nicht, sondern mildert die Weltlosigkeit des Arbeitsprozesses, gerade weil es selbst so sicher in der Welt verankert ist. Aus dem gleichen Grunde wirkt der eigentliche Prozesscharakter des Arbeitens, die unerbittliche Vordringlichkeit, mit der die Lebensnotwendigkeiten der Arbeit ihre Aufgaben stellen, durch den Besitz von Privateigentum wesentlich abgeschwächt. In einer Gesellschaft von Eigentümern steht immer noch die Welt und nicht die nackten Lebensnotwendigkeiten im Mittelpunkt menschlicher Pflege und Sorge. Erst eine Gesellschaft von Arbeitern oder Jobinhabern wird sich für nichts anderes interessieren als für die drohende Knappheit oder den möglichen Überfluss dessen, was das Leben für sein Lebendigsein braucht.”
(p136m:) Der Akkumulationsprozess jedoch ist potentiell unendlich, doch ständig in frage gestellt durch den tod des einzelnen. Der ausweg ist der mensch als “Gattungswesen”, nicht (mehr) privatperson, arbeitend für die allgemeinheit. Dies ermöglicht die freisetzung der produktiven kräfte (s.u. p139)
(p139:) Das Animal laborans ist ausgestoßen von der welt - sklaverei und verbannung in den haushalt sind bis heute die lage der arbeitenden klasse [ im kontrast zur privatheit der Griechen, s.o.]
(p140m:) Da die Sklaverei konsum- und nicht produkt-orientiert war, wurde durch sie quasi die Lebendigkeit delegiert. Dem Sklavenhalter bleibt lediglich ein “Ersatzleben”!
(p141m:) “Das >>leichte Leben der Götter<< würde für die Sterblichen ein lebloses Leben sein.”
(p142o:) “Die Fähigkeit, in einer Welt zu leben, kann sich nur in dem Maße realisieren, als Menschen gewillt sind, die Lebensprozesse zu transzendieren und sich ihnen zu entfremden, während umgekehrt die Vitalität und die Lebendigkeit menschlichen Lebens nur in dem Maße gewahrt werden können, als Menschen bereit sind, die Last, die Mühe und Arbeit des Lebens auf sich zu nehmen.”
“ Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass diese Vergesslichkeit nur eine Art Vorspiel sein konnte zu den ungeheuer phantastischen Veränderungen der zweiten industriellen, der `atomaren Revolution', die uns bevorsteht; aber dies sind Vermutungen, die nicht sehr wahrscheinlich sind angesichts der Tatsache, dass bisher uns kaum etwas berechtigt zu meinen, dass die uns bevorstehenden Veränderungen nicht nur, wie die bisherige Technik, die von uns errichtete und bewohnte Welt betreffen werden, sondern in eins damit auch die Grundbedingungen menschlichen Lebens auf der Erde. Solange aber diese Grundbedingungen anhalten, können Menschen frei nur sein, wenn sie von der Notwendigkeit wissen und ihre Last auf den Schultern spüren. Wenn die Arbeit so leicht geworden ist, dass sie kein Fluch mehr ist, besteht die Gefahr, dass niemand mehr sich von der Notwendigkeit zu befreien wünscht, bzw. dass Menschen ihrem Zwang erliegen, ohne auch nur zu wissen, dass sie gezwungen sind.” [ cf. zBsp. die Politikverdrossenheit unserer Tage]
(p147o:) “Das Problem dieser modernen Gesellschaft ist daher, wie man eine individuell begrenzte Konsumkapazität mit einer prinzipiell unbegrenzten Arbeitskapazität in Einklang setzen kann.”
Der Fluch des Reichtums: Gebrauchsgegenstände werden zu Konsumgütern (Wegwerf-Stühle etc)
(p148m auch 144f:) Nicht die Maschine sondern die Arbeitsteilung - die alte Berufs-Teilung überflüssig machend - ermöglicht prinzipiell die Massenproduktion; die Maschine verstärkt dies nur (aber ungeheuerlich)
(p149m:) Unsere Wirtschaft funktioniert nur durch den immer mehr beschleunigten Übergang vom Gebrauch zum Verbrauch
(p150o:) “An die Stelle von Dauer, Haltbarkeit, Bestand, die Ideale von Homo faber, des Weltbildners, ist das Ideal des Animal laborans getreten, das, wenn es träumt, sich den Überfluss eines Schlaraffenlandes erträumt. Das Ideal einer Arbeitsgesellschaft kann nur der Überfluss sein, die Steigerung der Fruchtbarkeit, die in der Arbeit gegeben ist.”
“Von Belang für die Gesellschaftsordnung, in der wir leben, ist nicht so sehr, dass zum ersten Mal in der Geschichte die arbeitende Bevölkerung mit gleichen Rechten in den öffentlichen Bereich zugelassen ist, als dass in diesem Bereich alle Tätigkeiten als Arbeiten verstanden werden, dass also, was immer wir tun, auf das unterste Niveau menschlichen Tätigseins überhaupt, die Sicherung der Lebensnotwendigkeiten und eines ausreichenden Lebensstandards, heruntergedrückt ist.”
(p151o:) “Die künstlerischen Berufe - genau gesprochen die einzigen `Werktätigen', welche die Arbeitsgesellschaft übriggelassen hat - bilden die einzige Ausnahme, die diese Gesellschaft zu machen bereit ist.”
“Die einzig ernstzunehmende Tätigkeit, der Ernst des Lebens im wörtlichen Sinne, ist die Arbeit, und was übrig bleibt, wenn man von der Arbeit absieht, ist das Spielen.”
(p153m:) “Nicht das Christentum, sondern die Neuzeit mit ihrer Verherrlichung der Arbeit hat hier eine entscheidende Wendung erzielt und die Künste der Gewalt in einen Verruf gebracht, den sie nie vorher gekannt haben.”
(p155m:) “Bei der Gefahr der bevorstehende Automation handelt es sich sehr viel weniger um die Bedrohung des natürlichen Lebens durch Mechanisierung und Technisierung als vielmehr darum, dass gerade die >>Künste<< des Menschen, und damit seine wirkliche Produktivität, in einem ungeheuer intensivierten Lebensprozess einfach untergehen könnten, wobei damit dieser Prozess automatisch, nämlich ohne der Mühe und Anstrengung der Menschen noch zu bedürfen, in dem natürlichen, immer wiederkehrenden Kreislauf des Lebens mitschwingen würde .... seinen Grundcharakter in Bezug auf die Welt nicht ändern .... nur ungeheuer schneller und intensiver die Dinge der Welt verzehren und damit die der Welt eigene Beständigkeit zerstören.”
(p157:) Das Animal laborans beherrscht das öffentliche Leben, es gibt dabei lediglich zur Schau gestelltes Privates anstatt eines im eigentlichen [griechischen, s.o.] Sinne öffentlichen Bereiches. Im Stadium der Massenkultur wird Kultur zum Zwecke der Unterhaltung der Massen missbraucht und aufgebraucht, diese Massengesellschaft ist weit entfernt davon, den Zustand des “Glücks für die größte Anzahl” zu verwirklichen (Karl Marx).
“Dass in unserer Gesellschaft nahezu jedermann glaubt, ein Recht auf Glücklichsein zu haben, und gleichzeitig an seinem Unglücklichsein leidet, ist das beredteste Zeichen dafür, dass wir wirklich angefangen haben, in einer Arbeitsgesellschaft zu leben, die als eine Gesellschaft von Konsumenten nicht mehr genug Arbeit hat, um das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Konsum herzustellen und damit den arbeitenden und konsumierenden Massen das zu geben, was sie Glück nennen, und worauf sie, jedenfalls so lange, als sie sich nur in diesem natürlichen Kreise bewegen, in gewissem Sinne sogar einen Anspruch haben. Denn was das sogenannte Glück betrifft, so sollten wir nicht vergessen, dass nur das Animal laborans die Eigenschaft hat, es zu beanspruchen; weder dem herstellend Werktätigen noch dem handelnd politischen Menschen ist ist es je in den Sinn gekommen, glücklich sein zu wollen oder zu glauben, dass sterbliche Menschen glücklich sein können.”

4 - Das Herstellen

(p161:) Homo faber, der handwerkende, dauerhaft brauchbares schaffende künstler erbaut die welt, nicht das seine erzeugnisse sich einverleibende animal laborans
(p162f:) Die dauerhaften (gebrauchs)gegenstände schaffen die `objektive', von der existenz des menschen sogar (eine zeitlang) unabhängige welt
Obwohl feldarbeit die für den lebenskreislauf notwendige nahrung erzeugt, ist sie selbst durch die kultivierung des bodens eine gestalterin des dauerhaften in form des kulturlandes.
Natur ist für den Menschen nur dadurch als objektive betrachtbar, weil er zwischen sich und sie seine selbstgeschaffene welt gestellt hat
(p164:) Landbearbeitung hat eine sonderstellung inne, da sie zwar konsumgüter herstellt, doch dadurch langfristig aus wildnis kulturlandschaft schafft; sie dient damit zum beispiel für die “Würde der Arbeit” im unterschied zur rein dem konsum geschuldeten hausarbeit. Wird jedoch der boden nicht mehr bearbeitet, kehrt die wildnis zurück. Die kulturlandschaft hat also nicht wirklich die eigenschaft eines [perennierenden] hergestellten gegenstandes
(p170ff:) Homo faber entwirft / erfindet geräte zur errichtung einer dingwelt. Animal laborans nutzt sie zur erleichterung und mechanisierung der arbeit. Arbeit ist im unterschied zur herstellung rhythmisch, womit sich in der arbeit Animal laborans und werkzeug vermischen. Das werkzeug wird zur maschine mit dem effekt des sich ihren rhythmus unterwerfens des menschen. Dies ist bei einem werkzeug unmöglich - hier bleibt der mensch der herr. So gibt es (Anm. 8) arbeits- jedoch keine werk-lieder - handwerker singen nach getaner arbeit
(p178ff:) In der sich in der entwicklung anschließenden automation wird die trennung des gegenstandes vom prozess sowie die des zweckes vom mittel sinnlos, die frage ist nun: steht die maschine noch im dienste der dinghaftigkeit der welt oder hat sie begonnen, die welt zu beherrschen indem zBsp das produziert wird, was die maschine herstellen kann und nicht umgekehrt die für die herstellung bestimmter gegenstände notwendigen maschinen entworfen und gebaut werden ?
“In einer Arbeitsgesellschaft ersetzt die >Welt< der Maschinen die wirkliche Welt, wenn auch diese Pseudowelt die größte Aufgabe der Welt nie erfüllen kann, nämlich sterblichen Menschen eine Behausung zu bieten, die beständiger und dauerhafter ist als sie selbst.”
(p182f:) Die weltanschauung des Homo faber ist konsequenter utilitarismus, in anderen worten, die unfähigkeit, den unterschied zwischen nutzen und sinn einer sache zu verstehen
“Jede wirklich durch und durch, konsequent utilitaristisch organisierte Welt befindet sich, wie Nietzsche gelegentlich bemerkte, in einem `Zweckprogressus in infinitum'”.
“Innerhalb des Utilitarismus ist das Um-zu der eigentliche Inhalt des Um-willen geworden - was nur eine andere Art ist zu sagen, dass, wo der Nutzen sich als Sinn etabliert, Sinnlosigkeit erzeugt wird.”
(p184:) Homo faber ist ebenso wie Animal laborans unfähig, sinn zu verstehen. Das utilitaristische denken findet seinen ausweg aus der sinnlosigkeit der welt nur in der flucht in die subjektivität des Brauchens selbst [Hedonismus, nicht Eudaimonismus], in der absolut anthropozentrischen welt also, in der der mensch als gebrauchender der endzweck ist.
(p185:) Der utilitarismus des Homo faber kulminiert in Immanuel Kants aussage, kein mensch dürfe je mittel zum zweck sein sondern sei vielmehr ein endzweck (also zweck an sich). Und wird damit zum herrn der natur
(p186f:) Deshalb verachtete das klassische Griechenland alles herstellen und handwerken, die bildenden künste, alles wo keine tätigkeit um ihrer selbst willen vor sich geht (darunter also auch zBsp künstler und architekten !) als “banausisch”; wobei hier nicht die zweckdienlichkeit als solche verurteilt wird, sondern die erhöhung der nützlichkeit zum maßstab für das leben des menschen und die welt und damit die entwertung der welt (cf. den streit des Platon mit Protagoras)
(p191f:) Homo faber findet beziehung zu anderen menschen nur noch im tausch der in isolierung gefertigten produkte. Die nur in isoliertheit (“spledid isolation”) mögliche werktätigkeit und insbesondere meisterschaft wird bedroht durch verwandlung der zuschauer der öffentlichen märkte in eine gleichberechtigt mitmachen wollende gesellschaft [von brüdern, cf
Alexander Mitscherlich] , wodurch das qualitätsbewusstsein in der gesellschaft bis zum verlust des unterscheidungsvermögens niveliert wird. Konsequent wurde der schutz des privatlebens als oberstes recht im anfang der neuzeit [nötig].
Meisterschaft ist nicht herrschaft, da sie material, werkzeug, gegenstände beherrscht, nicht menschen - sie ist unpolitisch. Der unterschied zwischen meister und geselle ist ursprünglich marginal (>maitre< und >ouvrier< synonym gebraucht), da temporärer natur, er teilt nicht in klassen. Das verhältnis meister - geselle ist die einzige der werktätigkeit selbst eigene form des umganges mit Anderen und entspringt sowohl dem bedürfnis nach gehilfen wie auch dem wunsche, andere in den eigenen fertigkeiten zu unterrichten. Wesensmäßig fremd ist der eigentlichen werktätigkeit das “team”, prinzipiell ohne meister organisiert und charakteristisch für die gegenwärtige akademische forschung
(p194f:) In der kommerziellen gesellschaft ist die eigentliche öffentliche tätigkeit nicht das herstellen, sondern der warenaustausch. Selbst die arbeit wird zur ware [Arbeitsmarkt]. Nur die arbeitsgesellschaft schätzt die arbeitskraft als solche, aber eben gleichgestellt mit der maschine. Dies ist jedoch nicht “human”, da die dahinterstehende gesinnung diejenige des reibungslosen funktionierens der maschine ist und nicht “der mensch als maß aller dinge”
(p196:) Jeder gebrauchsgegenstand kann zum tauschobjekt dienen und wird zur ware im ausschließlichen sinne dann, wenn der gegenstand überhaupt nur als ware produziert wird
(p197:) “.... wertstiftend ist einzig die Öffentlichkeit, in der ein Gegenstand erscheint, in das Verhältnis zu anderen Gegenständen treten und durch Vergleich eingeschätzt werden kann. Wert ist eine Eigenschaft, die kein Gegenstand innerhalb des privaten Bereichs besitzen oder erwerben kann, aber die ihm automatisch zuwächst, sobald er in die Öffentlichkeit tritt. Dieser >>Marktwert<< hat, wie Locke eindringlich betont, nicht das geringste zu tun mit dem >>intrinsic natural worth of anything<<, also mit der objektiven, ihm immanenten Qualität, ....”
(p199:) “... dass es auf dem Warenmarkt, und damit in der den Werten angemessenen Sphäre, einen >>absoluten<< Wert schlechterdings nicht gibt und dass dort danach Umschau zu halten der Quadratur des Zirkels verteufelt ähnlich sah .... Die vielbeklagte Entwertung der Werte, die den Verlust der eigenständigen Dingqualität einschließt, fängt damit an, dass man alles zu Werten bzw. Waren macht, also alles mit allem in Relation setzt und damit relativiert.”
(p200:) “... Und Homo faber, dessen gesamte Tätigkeit darin besteht, Maßstäbe anzulegen, Richtlinien aufzustellen, Regeln anzuwenden und Messbarkeit jeglicher Art in das >>Chaos<< zu tragen, das die unberührte Natur dem weltlichen Blick des Menschen bietet, kann in der Tat weniger als irgendein anderer Menschentypus ertragen, dass man ihn >>absoluter<< Maßstäbe und Kriterien beraubt. Denn ihm bleiben dann keineswegs relative Maßstäbe in der Hand; es gibt keine relativen Maßstäbe, wie es relative Werte gibt; jeder Maßstab ist im Verhältnis zu dem, was er zu messen sich anschickt, >>absolut<< und dem zu Messenden transzendent.”
(p206:) Denken ist nicht gleich erkennen. Erkennen verfolgt ein ziel, findet im erreichen desselben ein ende, vermittelt wissen, sammelt an, bildet wissenschaft. Das denken ist selbstgenügsam, zeitigt streng genommen nicht einmal resultate, ist nutzlos, bildet philosophie, ist endlos wie das leben
(p207:) Erkennen ist wie herstellen: ein prozess mit anfang und ende, der nutzen kontrollierbar, unterscheidet sich in der wissenschaft nicht von seiner funktion im herstellen; wissenschaftliche resultate sind wie alle anderen dinge produkte. Intelligenz ist für denken und erkennen wie der körper für das herstellen eigentlich ein physisches kraft-phänomen
(p209:) “... Der auffallendste innere Widerspruch der klassischen politischen Ökonomie ... Theoretiker, die so stolz auf ihre konsequent utilitaristische Weltanschauung waren, im Grunde eine ausgesprochene Verachtung für das das bloß nützliche hegten .... Haltbarkeit und Dauer waren die Maßstäbe .... sie sich noch im Sinne von Homo faber an der Welt und ihrer Dinglichkeit orientierten, und nicht im Sinne des Animal laborans alle Tätigkeiten auf das Leben und das ihm Notwendige bezogen.”

5 - Das Handeln

(p219:) Vom bloßen nutzen her betrachtet ist handeln ersatz für gewalt [Aber nein, handeln ist in erster linie kommunikation!]
(p225:) Anmerkung 8: Der ursprung des materialismus liegt lange vor Marx in der geschichte der philosophie, zB bei Platon (siehe Politeia 369c) und Aristoteles
(p232:) “Der Heros ist ursprünglich bei Homer nur der freie Mann, der als solcher teilhat an dem Krieg um Troja und von dem daher eine Geschichte zu erzählen ist.” Der für helden in unserer zeit für unerlässlich erachtete mut ist bereits in der initiative gegeben, durch handeln und sprechen in die welt einzugreifen, in ihr die uns eigene geschichte zu beginnen. Für die alten Griechen ist ohne diesen mut freiheit überhaupt nicht möglich
(p236ff:) Der die initiative ergreifende hat die macht, nicht nach der “monopolisierten Anmaßung ..., dass der Starke am mächtigsten allein sei.”
Der handelnde ist immer unter anderen also auch einer der erduldet. “Das Dulden ist die Kehrseite des Handelns .... Geschichte der Taten und Leiden derer, die von ihr affiziert werden.” (s.u. p245)
“Schrankenlosigkeit erwächst aus der dem Handeln eigentümlichen Fähigkeit, Beziehungen zu stiften, und damit aus der ihm inhärenten Tendenz, vorgegebene Schranken zu sprengen und Grenzen zu überschreiten. .... Weil Handeln von sich aus gar nicht anders als maßlos sein kann, ist Maßhalten seit eh und je eine der klassischen politischen Tugenden und die Hybris seit eh und je die spezifische Versuchung des handelnden Menschen gewesen, wie die in diesen Dingen nur zu erfahrenen Griechen nicht müde wurden, sich selbst vorzuhalten. Der Wille zur Macht hingegen ist eine spezifische modernes Phänomen, das nicht so sehr aus dem Handeln als aus der Ohnmacht moderner Menschen im Bereich des Politischen stammt; aber Hybris und Maßlosigkeit sind die Versuchungen, die allem Handeln als solchem eigen sind.”
(p239f:) “Dass wir das Leben überhaupt aushalten, mit dem Tod vor Augen zu existieren, dass wir uns nämlich keineswegs so verhalten, als warteten wir nur die schließliche Vollendung des Todesurteils ab, das bei unserer Geburt über uns gesprochen wurde, mag damit zusammenhängen, dass wir jeweils in eine uns spannende Geschichte verstrickt sind, deren Ausgang wir nicht kennen. Der Lebensüberdruss, das taedium vitae, ist vielleicht nichts anderes als ein Erlahmen dieses Gespanntseins. .... die Bedeutung einer jeden Geschichte sich voll erst dann enthüllt, wenn die Geschichte an ihr Ende gekommen ist ....“
(p241:) Unabsehbarkeit des handelns, denn der handelnde weiß (noch) nicht, “wen er eigentlich als sich selbst zur Schau stellt.”
Eudaimon [von eu = “gut” und Daimon = Personifikation der Schicksalsbestimmung eines Menschen, s zB Plato Phaidon 107d] zu sein und gewesen zu sein, das “gut Leben” und das “gut Gelebthaben” sind eins, solange das Leben andauert, weil diese bleibende befindlichkeit die identität der person ausmacht.
(p243:) “Es ist keine Frage, dass das Urbild des Handelns, wie es der griechischen Antike vorschwebte, von dem Phänomen der Selbstenthüllung bestimmt war ....”
(p244f:) “.... die Griechen, im Unterschied zu allen späteren Begriffen von Politik, (rechneten) die Tätigkeit des Gesetzgebers nicht unter die eigentlichen politischen Tätigkeiten .... Gesetzgeber wie Erbauer der Stadt konnten daher von der Bürgerschaft aus dem Ausland berufen werden .... Die Gesetze waren für sie nicht Erzeugnisse eines Handelns, sondern Produkte des Herstellens wie die Mauern, welche die Stadt umschlossen und ihre physische Identität bestimmten, auch .... Aber der Inhalt des Politischen, das, worum es in dem politischen Leben der Stadtstaaten selbst ging, war weder die Stadt noch das Gesetz - nicht Athen, sondern die Athener waren die Polis -, und der spezifisch römische Patriotismus, der der Stadt, dem Land und den Gesetzen galt, war den Griechen ganz fremd.”
[Siehe hierzu den
Ordoliberalismus]
(p245:) Ein beispiel des zusammenspieles von handeln und dulden (s.o. p236ff) ist die liebe des wohltäters für die von ihm unterstützten, größer als deren liebe für ihn. Denn er hat, im unterschied zu jenen, getan
(p247:) Die stadt-staaten wurden gegründet, um heldentum vor ort zu ermöglichen, nicht nur in der fremde. “.... sie von Anfang bis Ende darauf abgesehen hatten, das Außerordentliche so zu häufen, dass es die Konsistenz und den Gang des Alltagslebens bestimmte.”
(p252ff:) “Wo Macht nicht realisiert, sondern als etwas behandelt wird, auf das man im Notfall zurückgreifen kann, geht sie zugrunde, und die Geschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, dass kein materiell greifbarer Reichtum der Welt diesen Machtverlust auszugleichen vermag. Mit realisierter Macht haben wir es immer dann zu tun, wenn Worte und Taten untrennbar miteinander verflochten erscheinen, wo also Worte nicht leer und Taten nicht gewalttätig stumm sind, wo Worte nicht missbraucht werden, um Absichten zu verschleiern, sondern gesprochen sind, um Wirklichkeiten zu enthüllen, und wo Taten nicht missbraucht werden, um zu vergewaltigen und zu zerstören, sondern um neue Bezüge zu etablieren und zu festigen, und damit neue Realitäten zu schaffen.
.... Wer, aus welchen Gründen immer, die Isolierung sucht und an diesem Zusammen nicht teilhat, muss zumindest wissen, dass er auf Macht verzichtet und die Ohnmacht gewählt hat, ungeachtet dessen, wie groß seine individuelle Stärke und wie gut seine Gründe sein mögen.
.... Wichtiger noch ist vielleicht die Entdeckung, die meines Wissens erst Montesquieu, der letzte politische Theoretiker, der die Frage der Staatsform ernst genommen hat, gemacht hat. Für Montesquieu war das hervorragende Merkmal der Tyrannis [Tyrannei] das Prinzip der Isolierung, auf dem sie beruht, die Isolierung des Herrschers von seinen Untertanen und die Isolierung der Untertanen gegeneinander, die durch eine Art systematischer und organisierter Verbreitung gegenseitiger Furcht und allseitigen Misstrauens zustande kommt. .... Die Tyrannsi verhindert aktiv die Entstehung von Macht, und zwar innerhalb des gesamten politischen Bereichs; durch die ihr eigene Kraft der Isolierung erzeugt sie Ohnmacht mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der andere Staatsformen auf verschiedene Weise Macht erzeugen. .... Der >>Wille zur Macht<<, wie ihn die Neuzeit von Hobbes bis Nietzsche als Laster oder Tugend der Starken auslegte, ist in Wahrheit eines der Laster der Schwachen und Schlechtweggekommenen, der von Neid, von Gier, von Ressentiment geplagten. Der Wille zur Macht ist das gefährlichste dieser Laster, die er politisch überhaupt erst virulent macht.
Wenn die Tyrannis der immer vergebliche Versuch ist, Macht durch Gewalt zu ersetzen, so ist Ochlokratie oder Mob-Herrschaft, die ihr genaues Gegenstück bildet, der erheblich aussichtsreichere Versuch, Stärke durch Macht zu kompensieren. ....
Korrumpierend aber wirkt sich Macht nur auf den Gebieten aus, in denen es auf das Herstellen, das nur in der absondernden Isolierung vollbracht werden kann, ankommt, also in dem sog. Kultur- und Geistesleben, nicht in dem eigentlich politischen Bereich.” [s.o. p244f zu Gesetzen]
(p259:) “Nichts vielleicht ist in unserer Geschichte so selten und so kurzfristig gewesen wie echtes Vertrauen auf Macht; nichts hat sich hartnäckiger zur Geltung gebracht als das platonisch-christliche Misstrauen gegen den Glanz, der der Macht eigen ist, weil sie dem Erscheinen und dem Scheinen selbst dient; nichts schließlich hat sich in der Neuzeit allgemeiner durchgesetzt als die Überzeugung, dass >>Macht korrumpiert<<.”
“Dass das Äußerste und Höchste, was der Mensch vollbringen kann, in dem Erscheinen und Aktualisieren seines eigenen Wesens bestehen soll, ist keineswegs selbstverständlich. Dagegen steht einerseits die Grundüberzeugung nicht nur der schaffenden Künstler, sondern aller Herstellenden, dass das Werk nicht nur den Menschen überdauert, sondern auch mehr ist als der, der es schuf, und andererseits der dem Arbeiten innewohnende Glaube, dass das Leben der Güter höchstes sei. Wo immer das eine oder das andere die Lebensführung bestimmt, werden wir auf die für alle eigentlich unpolitischen Menschen typische Neigung treffen, das Handeln und Miteinandersprechen als eitle Betriebsamkeit abzustempeln und den öffentlichen Angelegenheiten nur insoweit eine Existenzberechtigung zuzugestehen, als sie dem allgemeinen Nutzen dienen und angeblich höhere Zwecke fördern - z. B., im Falle von Homo faber, die Welt schöner oder nutzbringender gestalten oder, im Falle des Animal laborans, das Leben erleichtern und verlängern. .... Die Art und Weise, in der Menschen Wirkliches als wirklich erfahren, verlangt, dass sie die schiere Gegebenheit der eigenen Existenz realisieren, nicht etwa weil sie sie ändern könnten, sondern um zu artikulieren und zu aktualisieren, was sie sonst nur erleiden und erdulden würden. Und diese artikulierende Aktualisierung vollzieht sich in den Tätigkeiten, die selbst reine Aktualitäten sind. [und ist überhaupt die einzige dem menschen gegebene freiheit (die er wählen kann oder auch nicht)]
Das einzige, woran wir die Realität der Welt erkennen und messen können, ist, dass sie uns allen gemeinsam ist ....”
(p266f:) “Der Impuls, der den Hersteller in die Öffentlichkeit und auf den Markt drängt, ist nicht das Verlangen nach anderen Menschen, sondern das Intresse an anderen Erzeugnissen, und die Macht, welche diese Marktsphäre entstehen lässt und am Dasein hält, ist nicht das Machtpotential, das sich bildet, wenn Menschen miteinander handeln und sprechen, sondern eine Kombination von >>Tauschkraft<< (>>The power of exchange<<, Adam Smith), die jeweils in der Isolierung des Herstellens gewonnen wurde. Diese eigentümliche, menschlich-personale Kontaktlosigkeit in einer Warengesellschaft hat Marx als Selbstentfremdung und Entmenschlichung des Menschen angeprangert, und das in ihr herrschende Primat des Warenaustauschs schließt in der Tat das Personale aus dem öffentlichen Bezirk aus und drängt alles eigentlich Menschliche in den Privatbereich der Familie oder die Intimität der Freundschaft. Insofern die moderne Gesellschaft das menschlich Personale zur Privatsache und den Warenhandel zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht hat, beruht sie in der Tat auf einer genauen Umkehr der gesellschaftlichen Verhältnisse in der klassischen Antike.”
(p267ff:) “Denn dass schöpferische Genialität der Inbegriff menschlicher Größe sein soll, war dem Mittelalter noch so fremd wie dem Altertum. ....
Auch der Geniekult kann, mit anderen Worten, die in der Warengesellschaft herrschende Degradierung der Person nicht verhindern, er ist vielmehr nur eine andere Äußerung dieser Degradierung.
Das, was die Integrität der Person, die durch nichts anderes zustande kommen kann als dadurch, dass sie Gegebenes, die Mitgift der Geburt, aktualisiert und artikuliert, hält und erhält, ist, was wir gemeinhin Stolz nennen. Stolz aber ist nur möglich in dem Vertrauen, dass Wer-jemand-ist an Größe und Bedeutung alles übersteigt, was dieser Jemand möglicherweise leisten und vollbringen mag. >>Lasst doch Ärzte, Zuckerbäcker und die Lakaien der großen Häuser danach beurteilt werden, was sie getan haben und sogar nach dem, was sie zu tun beabsichtigen; die Herrschaften selbst beurteilt man nach dem, was sie sind.<< (nach The Dreamers von Isak Dinesen (Pseudonym der Karen Blixen = Tania Blixen) in >>Sieben gothische Erzählungen<<) Auf das stolz zu sein, was man getan hat, dazu wird sich nur das Vulgäre herablassen; und diejenigen, die sich zu dieser Herablassung bereitfinden, werden >>die Sklaven und Gefangenen<< ihrer eigenen Fähigkeiten, wobei sie vielleicht sogar entdecken könnten, sofern mehr von ihnen übrigbleibt als die reine, stupide Eitelkeit, dass es nicht weniger bitter, vielleicht aber noch beschämender ist, der Sklave seiner selbst als der Diener eines anderen zu sein.”
(p272:) “Antipolitisch an diesen, von der Arbeit bedingten, gesellschaftlichen Bildungen ist die Verschmelzung der Vielen in ein Kollektiv, also die Aufhebung der Pluralität; dies ist der genaue Gegensatz jeglicher Gemeinschaft, ob sie nun politischer oder wirtschaftlicher Art ist, denn eine Gemeinschaft besteht natürlich niemals, nach den Worten Aristoteles', aus dem Zusammenschluss zweier Ärzte, sondern bildet sich zwischen einem Arzt und einem Bauern, >>und überhaupt zwischen Leuten, die verschieden und einander ungleich sind.<<
(p275f:) “Politisch ist der Hauptunterschied zwischen Sklavenarbeit und freier Arbeit nicht, dass der Arbeiter bestimmte individuelle Freiheiten genießt - Bewegungsfreiheit, Berufsfreiheit und die Unverletzlichkeit der Person -, sondern dass er in den politischen Bereich zugelassen und politisch voll emanzipiert ist.”
Das altertum setzte sklaven frei, gab ihnen die rechte der ansässigen fremden: bürgerliche, doch keine politischen. Dagegen “richtete sich die moderne Arbeiteremanzipation auf die Arbeit selbst; sie emanzipierte die arbeitende Tätigkeit, machte sie gleichsam gesellschaftsfähig, und zwar lange bevor der Arbeiter als Person die volle Gleichberechtigung erlangte.”
(p277f:) “Als die Arbeiterbewegung den Schauplatz des Öffentlichen betrat, erschien sie mit anderen Worten als einzige Gruppe, in der Menschen qua Menschen, und nicht als Glieder der Gesellschaft, handelten und sprachen .... Nur [dadurch] .... vermochte sie eine so große Anziehungskraft außerhalb der Arbeiterklasse auszuüben .... Wie doppeldeutig und schwer entwirrbar immer die Geschichte der Arbeiterbewegung, ihrer Inhalte und Ziele, gewesen sein mag, ihre Fähigkeit, das Volk zu repräsentieren, und damit ihre spezielle politische Funktion verliert sie, sobald die Arbeiterklasse als ein integraler Bestandteil der Gesellschaft anerkannt ist .... ”
(p279:) “Nicht nur den Denkern und Philosophen, sondern auch den Handelnden selbst hat die Versuchung immer sehr nahe gelegen, sich nach einem Ersatz für das Handeln umzusehen in der Hoffnung, dass der Bereich der menschlichen Angelegenheiten vielleicht doch noch von dem Ungefähr und der moralischen Verantwortungslosigkeit errettet werden könne, die sich aus der einfachen Tatsache der in jedes Handeln verstrickten Pluralität von Handelnden ergibt. Dass die zur Lösung dieser Aporien vorgeschlagenen Versuche im Grunde immer auf das gleiche hinauslaufen, zeigt, wie einfach elementarer Natur die Aporien selbst sind. Allgemein gesprochen handelt es sich nämlich immer darum, das Handeln der vielen im Miteinander durch eine Tätigkeit zu ersetzen, für die es nur eines Mannes bedarf, der, abgesondert von den Störungen durch die anderen, von Anfang bis Ende Herr seines Tuns bleibt. Dieser Versuch, ein Tun im Modus des Herstellens an die Stelle des Handelns zu setzen, zieht sich wie ein roter Faden durch die uralte Geschichte der Polemik gegen die Demokratie, deren Argumente sich desto leichter in Einwände gegen das Politische überhaupt verwandeln lassen, je stichhaltiger und beweiskräftiger sie vorgetragen sind.
Die Aporien des Handelns lassen sich alle auf die Bedingtheit menschlicher Existenz durch Pluralität zurückführen, ohne die es weder einen Erscheinungsraum noch einen öffentlichen Bereich gäbe. Daher ist der Versuch, der Pluralität Herr zu werden, immer gleichbedeutend mit dem Versuch, die Öffentlichkeit überhaupt abzuschaffen.”
(p279f:) “Nicht Grausamkeit ist das Merkmal der Tyrannis, sondern die Vernichtung des öffentlich politischen Bereichs, den der Tyrann aus >>Weisheit<< - weil er sich, und vermutlich sogar zu Recht, einbildet, es besser zu wissen - oder aus Machthunger für sich monopolisiert, dass er also darauf besteht, dass die Bürger sich um ihre Privatangelegenheiten kümmern und es ihm, dem >>Herrscher überlassen, sich der öffentlichen Geschäfte anzunehmen<<.” (Aristoteles, Athenische Verfassung, XV,5)
Offenkundige vorteile der Tyrannei sind die steigerung der gesellschaftlichen produktivität, sicherheit und stabilität.
(p281ff:) “So groß ist die Verführung, die menschlichen Angelegenheiten durch die Einführung einer unpolitischen Ordnung zu stabilisieren, dass der größte Teil der politischen Philosophie seit Plato sich mühelos als eine Geschichte von Versuchen und Vorschlägen darstellen ließe, die theoretisch und praktisch darauf hinauslaufen, Politik überhaupt abzuschaffen
.... Die theoretisch kürzeste und grundlegendste Version dieser Bestrebungen, das Handeln durch Herrschaft zu ersetzen, findet sich in dem Dialog über den >>Staatsmann<< .... Plato hat als erster die Menschen eingeteilt in solche, die wissen und nicht tun, und solche, die tun und nicht wissen, was sie tun. Betrachtet man die Geschichte des politischen Denkens seit Plato, so ist man versucht zu meinen, dass der Riss, mit dem Plato das Handeln in einen Gegensatz zwischen Tun und Wissen aufspaltete, zwar auf die mannigfaltigste Weise variiert und auch wieder verdeckt wurde, aber nie wieder verheilt ist.
.... Er wollte, mit anderen Worten, den privaten und privativen Charakter der Hausgemeinschaft eliminieren, und zu diesem Zweck empfahl er die Abschaffung des Privateigentums und der Einehe .... Platos Forderung, die Verhaltensregeln in öffentlichen Angelegenheiten aus dem Herr-Sklave-Verhältnis herzuleiten, lief in Wahrheit darauf hinaus, das Handeln a priori aus dem Verlauf der menschlichen Angelegenheiten auszuschalten.”
(p284f:) “Historisch hat dieser aus dem Haushaltsbereich der Familie stammende Herrschaftsbegriff eine so entscheidende Rolle in der theoretischen Auslegung des Öffentlich-Politischen gespielt, dass er für uns primär mit Politik im engeren Sinne des Wortes verknüpft ist ....
So wird Selbstbeherrschung für Plato das höchste Kriterium für die Fähigkeit, andere zu beherrschen; die Befehlsgewalt des Philosophen-Königs ist legitim, weil die Seele imstande ist, dem Körper Befehle zu erteilen, und weil die Vernunft die Fähigkeit besitzt, die Leidenschaften zu beherrschen. .... Zur Herrschaft berechtigt ist [bei Platon], was Anfang ist .... und erst nach dem Untergang der antiken Welt ist die Vorstellung von einem Anfangen aus dem Herrschaftsbegriff ganz verschwunden. Mit diesem Verlust verlor die Tradition politischen Denkens die elementarste und ursprünglichste Erfahrung des gewaltigen Vermögens menschlicher Freiheit.
Die Platonische Trennung von Wissen und Tun hat sich dagegen bis heute als die Wurzel aller Herrschaftstheorien erhalten, die mehr beanspruchen als die Rechtfertigung eines angeblich der menschlichen Natur inhärenten Machtwillens, der prinzipiell unverantwortlich handelt.”
(p285ff:) “ .... dass Plato für seine Auflösung des Handelns in Befehlen und Gehorchen sich nicht nur an den Herrschaftsverhältnissen der antiken Familie orientierte, sondern sich auf Beispiele bezog, die der Sphäre des Herstellens und Produzierens entnommen sind .... Wie sehr sich das Platonische Denken gerade an diesen Erfahrungen im Herstellen orientierte, geht schon daraus hervor, dass Plato als erster das Wort >Idee< als ein Schlüsselwort philosophischen Denkens einführte, also zum Begriff erhob, was ursprünglich im Herstellen erfahren war.” zB wird von Aristoteles in einem seiner frühesten dialoge das >vollkommenste Gesetz<, das der idee am nächsten kommt, mit senkblei, maß und kompass verglichen.
Der große vorteil der platonsichen ideenlehre ist die damit mögliche elimination des persönlichen aus dem Herrschaftsbegriff. Plato entwirft [wie ein handwerker] als erster utopische staatsformen, in denen das menschliche miteinander technisch geregelt werden kann
(p291f:) Der erfolg der umwandlung des handelns in das herstellen zeigt sich deutlich an der heutigen terminologie, die fragen der politik nahezu zwingend an zweck-mittel-kategorien bindet, “dass der Zweck die Mittel heilige” etc.
(p292:) Paradox ist, dass Platon wie Aristoteles (weniger) sich einig waren, handwerkern das bürgerrecht vorzuenthalten, doch “ gleichzeitig vorschlugen, alle öffentlich-politischen Angelegenheiten so zu ordnen, dass sie denselben Kriterien unterstellt werden können, welche für die herstellenden Künste gültig sind.”
(p293f:) Der aufbruch in die zukunft hat begonnen, der mensch richtet seine handelnde Fähigkeit auf die natur in welcher er experimentell “spontane Prozesse loslässt”. Die naturwissenschaften sind vornehmlich wissenschaften von prozessen.
(p296ff:) Die unumkehrbarkeit der prozesse führt im abendländischen denken zum schluss, freiheit könne nur der bewahren, der sich des handelns enthält; in falscher gleichsetzung von freiheit und souveränität, welch letztere wegen der menschlichen bedingtheit der pluralität tatsächlich nicht möglich ist. “Souverän ist nur der einzige Gott.”
(p301:) “Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit - dagegen, dass man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wusste, und nicht wissen konnte, was man tat [wegen der potentiell in's unendiche gehenden konsequenzen eines jeden handelns] - liegt in der menschlichen Fähigkeit, zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit - und damit gegen die chaotische Ungewissheit alles Zukünftigen - liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten. Diese beiden Fähigkeiten gehören zusammen ....”
(p303f:) “Will man in der Parallele mit der von außen angelegten, politischen Moral Platonischer Prägung bleiben, so könnte man sagen: so wie die Art und Weise der Selbst-Beherrschung die Herrschaft über andere rechtfertigt und bestimmt, wird die Art und Weise, wie jemand erfährt, dass Verzeihungen gewährt und Versprechen gehalten werden, darüber entscheiden, wie weit er imstande ist, sich selbst zu verzeihen oder ein Versprechen zu halten, das nur ihn selbst betrifft. Nur wem bereits verziehen ist, kann sich selbst verzeihen; nur wem Versprechen gehalten werden, kann sich selbst etwas versprechen und es halten.”
(p304f:) Dringt das herstellen in das handeln ein wie in die naturwissenschaften, dann fehlt das mittel des wiedergutmachens, und nur mit denselben gewaltsamen mitteln des tun kann ungetan gemacht werden.
“Was das Verzeihen innerhalb des Bereiches menschlicher Angelegenheiten vermag, hat wohl Jesus von Nazareth zuerst gesehen und entdeckt ....
Entscheidend in unserm Zusammenhang ist, dass Jesus gegen die >>Schriftgelehrten und Pharisäer<< die Ansicht vertritt, dass nicht nur Gott die Macht habe, Sünden zu vergeben .... sondern umgekehrt von den Menschen mobilisiert werden muss, damit auch Gott ihnen verzeihen könne .... Gott vergibt >>uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern<<. Zweifellos bildet die Einsicht >>Denn sie wissen nicht, was sie tun<< den eigentlichen Grund dafür, dass Menschen einander vergeben sollen; aber gerade darum gilt auch diese Pflicht des Vergebens nicht für das Böse, von dem der Mensch von vorhinein weiß, und sie bezieht sich keineswegs auf den Verbrecher .... Dass jemand das Böse direkt will, ist selten .... Verbrechen sind nicht häufiger als tätige Güte.”
(p307ff:) Verzeihen ist unerwartet und damit dem ursprünglichen [verziehenen] tun ebenbürtig; es befreit von der vergangenheit. Die einzig echte alternative des vergebens ist strafe.
“Auf jeden Fall können wir das >>radikal Böse<< [Kant] vielleicht daran erkennen, dass wir es weder bestrafen noch vergeben können, was nichts anderes heißt, als dass es den Bereich menschlicher Angelegenheiten übersteigt und sich den Machtmöglichkeiten des Menschen entzieht .... Böse Taten sind buchstäblich Un-taten; sie machen alles weitere Tun unmöglich ....
Das Vergeben bezieht sich auf die Person und niemals auf die Sache .... wenn ein Unrecht verziehen wird, so wird demjenigen verziehen, der es begangen hat, was natürlich nicht das geringste daran ändert, dass das Unrecht unrecht war.”
Nicht allerdings hat nur (wie Jesus sagt) die Liebe die macht, zu vergeben. Liebe löst die liebenden aus der welt, ist somit ihrem wesen nach antipolitisch, vermutlich die stärkste der antipolitischen kräfte. Und tatsächlich entspricht der liebe im reich der menschlichen angelegenheiten der >Respekt<, nach Aristoteles eine art >>politische Freundschaft<<, die der intimität und der nähe nicht bedarf, unabhängig von eigenschaften oder leistungen der respektierten person ist.
“So ist ja offenbar der moderne Respektverlust, bzw. die Überzeugung, dass wir Respekt nur schulden, wo wir bewundern oder schätzen, ein deutliches Zeichen für die fortgeschrittene Entpersonalisierung des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens.” [Siehe zB
hier und auch hier]
(p311:) Im politischen wurde das verzeihen niemals ernst genommen, aber das versprechen hat stets eine große rolle gespielt
(p312:) Auf einem vertrag gegründete staatsformen machen im unterschied zu auf herrschaft und souveränität beruhenden freiheit möglich, im tausch für die unabsehbarkeit der zukunft
(p314:) Die politische moral kann sich lediglich auf die fähigkeit zu versprechen stützen

6 - Die Vita activa und die Neuzeit

(p325:) “Die Geschichte dieses Jahrhunderts beweist vielmehr, dass der Glaubensverlust die Menschen nicht auf die Welt und ein Diesseits, sondern vielmehr auf sich selbst zurückgeworfen hat .... Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung, wie Marx meinte, ist das Kennzeichen der Neuzeit.”
(p326f:) Die befreiung des natürlichen prozesses der arbeitskraft geht einher mit einem ansteigen des gesellschaftlichen reichtums und der enteignung vieler [s.o.]. Als ersatz für das verlorene eigentum an haus und hof bietet sich der nationalstaat an
(p337:) “Jedenfalls hat, was die Neuzeit betrifft, Weltentfremdung den Gang und die Entwicklung der modernen Gesellschaft bestimmt, während Erdentfremdung von vornherein das Wahrzeichen der modernen Wissenschaft wurde.”
(p346f:) “Es wäre in der Tat absurd, sich nicht klarzumachen, wie übergenau die neuzeitliche Weltentfremdung zusammenstimmt mit den neuzeitlichen subjektivistischen Strömungen in der Philosophie - von Descartes, Hobbes und dem englischen Sensualismus, Empirizismus und Pragmatismus über den deutschen Idealismus und Materialismus bin hin schließlich zu den neuesten Schulen des phänomenologischen (die Wirklichkeit >>ausklammernden<<) Existentialismus oder des logischen und epistemologischen Positivismus ....
Die Welt wird nicht von Ideen verändert, sondern von Ereignissen .... ” [aber die ereignisse werden auch von den ideen vorbereitet, so sucht und findet beispielsweise die physik die in ihre theorien passenden materiellen bestätigungen / elementarteilchen, was HA dann auch beschreibt,
s.u. und nochmals]
(p348:) “Die Philosophie der Neuzeit fängt an mit Descartes' Satz: De omnibus dubitandum est.” Dies ist jedoch nicht misszuverstehen als die bekannte methode systematischen zweifelns des denkens, sondern setzt an die stelle des Staunens über alles seiende die grundfrage der neuzeitlichen metaphysik, zuerst formuliert von Gottfried Wilhelm Leibniz, warum es eher Etwas als Nichts gibt, wo doch das Nichts einfacher, leichter ist
(p349f:) “Wenn das leibliche Auge so trügen kann, dass die Menschen durch die Jahrhunderte hindurch sich einreden konnten, dass die Sonne um die Erde kreist, dann verliert die Metapher von dem inneren Auge des Geistes allen Sinn; auch sie gründet, selbst wenn sie im Gegensatz zur Sinneswahrnehmung gebraucht wird, noch auf einem absoluten Vertrauen in das leibliche Sehvermögen. Wenn Sein und Erscheinung endgültig getrennt werden müssen - und dies ist, wie Marx gelegentlich bemerkte, das Grundprinzip der modernen Wissenschaft -, dann gibt es nichts mehr, was man auf Treu und Glauben hinnehmen kann, nichts mehr, woran nicht gezweifelt werden müsste ....
Was den kartesischen Zweifel auszeichnet, ist seine Universalität, dass vor ihm nichts sicher ist, kein Gedanke und keine Erfahrung .... Der kartesische Zweifel zweifelt nicht einfach, dass das menschliche Verstandesvermögen nicht der ganzen Wahrheit mächtig oder dass das menschliche Sinnesvermögen nicht allem Wirklichen geöffnet sei, sondern daran, dass Sichtbarkeit überhaupt ein Beweis für Wirklichkeit und dass Verstehbarkeit überhaupt ein Beweis für Wahrheit sei.”
(p352f:) “Durch Descartes' Philosophie spuken zwei Alpträume der Angst, die in gewissem Sinne die Neuzeit niemals losgelassen haben” .... nämlich das bezweifeln der wirklichkeit wie des menschen selbst, und, dass gott nicht schöpfer und könig der welt sei sondern ein böser geist, René Descartes' “Dieu trompeur”, ein betrügerischer gott, der sich den menschen so ausgedacht hat, dass die wahrheit zwar kennend, doch nie erreichen könnend
“So verschwand aus der Religion vorerst keineswegs der Glaube an eine Erlösung oder ein Leben nach dem Tode, wohl aber die certitudo salutis, die Gewissheit des Heils - und zwar vor allem im Protestantismus .... So endete der Verlust der Wahrheitsgewissheit in einem neuen und ebenfalls bis dahin unbekannten Eifer für Wahrhaftigkeit ....
So wurden die moralisch wirksamsten Zentren der Neuzeit die gelehrten Gesellschaften und Königlichen Akademien, in denen die Wissenschaftler sich organisiert hatten, um Mittel und Wege zu finden, die Natur in die Falle zu locken und ihr ihre Geheimnisse abzuzwingen.”
(p353:) Theorien haben nun nur noch praktischen wahrheitsgehalt, als arbeitshypothese. Wahrheit ist nun die bewährung der hypothese
(p354:) “Descartes' Überzeugung, dass >>wenn auch der Geist des Menschen nicht das Maß der Dinge und der Wahrheit ist, er doch zweifellos das Maß dessen sein muss, was wir bejahen oder verneinen<< spricht nur aus, was unausdrücklich die eigentlich wissenschaftliche Haltung der Zeit auszeichnete ....”
(p355f:) “Die Gewissheit, welche die neue Denkmethode sichert, war nach Descartes die Gewissheit der eigenen Existenz. Und dieses Minimum an Gewissheit kann der Mensch sicher sein, wo immer er hingeht, weil er es in sich selbst trägt”
(p358ff:) “Die kartesische Methode der Argumentation beruht durchaus >>auf der unausgesprochenen Voraussetzung, dass der Verstand nur das erkennen kann, was er selbst hervorgebracht hat und in gewissem Sinne in sich selbst zurückhält<<. Ihr Erkenntnisideal ist das der Mathematik, wie die Neuzeit sie verstand .... Erkenntnis von Formen, die das Erkenntnisvermögen selbst hervorgebracht hat ....
Offenbar führt diese Erkenntnistheorie genau in die für den gesunden Menschenverstand >>verkehrte Welt<<, von der Hegel bekanntlich meinte, sie sei die Welt der Philosophie; sie ist in der Tat, wie Whitehead meint, >>das Resultat des auf dem Rückzug befindlichen Gemeinsinns<<.
.... was die Menschen des gesunden Menschenverstands miteinander gemeinsam haben, ist keine Welt, sondern lediglich eine Verstandesstruktur .... die Zugehörigkeit zu einer Tiergattung, die sich vor anderen Tiergattungen nur dadurch auszeichnet, dass sie es vermag, Schlussfolgerungen zu ziehen ....”
Das Problem ist, dass ein der erde verhaftetes wesen mit seinem sinnesapparat den archimedischen punkt entdeckt hat und damit notwendig in einer “verkehrten Welt” leben muss. Descartes löst dies durch die verlegung des archimedischen punktes in den menschen selbst, in sein erkenntnisvermögen
“ Dabei erlaubt die reductio scientiae ad mathematicam, an die Stelle des sinnlich Gegebenen ein System mathematischer Gleichungen zu setzen ....”
(p362f:) “.... äußerst unheimlichen Tatbestand, dass die Systeme der nicht-euklidischen Mathematik gefunden wurden .... ohne .... dass eine solche Mathematik anwendbar oder überhaupt von irgendeiner empirischen Bedeutung sein könne - bis sie dann in Einsteins Theorie ihre überraschende Gültigkeit erwiesen.
.... dass diese mathematisch vorausgesagten Universen Traumwelten sein könnten, in denen jede Traumvision, die der Mensch so oder anders produziert, sich als Wirklichkeit bewährt, solange der Traum währt.”
(p365f:) Die macht des menschen, welten zu erschaffen wirft ihn auf sich selbst zurück, sperrt ihn gleichsam in die grenzen seiner selbst erschaffenen systeme
“Mit dem Verschwinden des sinnlich Gegebenen verschwindet auch das Übersinnliche, und damit die Möglichkeit, das Konkrete im Denken und Begriff zu transzendieren.”
(p367:) Die schwerwiegendste konsequenz der neutzeitlichen entdeckungen war vielleicht “die Umkehrung der überkommenen hierarchischen Ordnung von Vita contemplativa und Vita activa.”
Die moderne technik ist nicht folge des pragmatischen strebens nach verbesserung der lebensumstände sondern ergibt sich “zufällig” aus “theoretischen” interessen (der grundlagenforschung)
(p368:) “Um Gewissheit zu erlangen, musste man Mittel und Wege finden, sich zu vergewissern, und um zu erkennen, musste man etwas tun.”
(p370:) “Worte sind, wie Plato meint, zu >>schwach<< für das Wahre, das daher überhaupt in der Rede nicht gefasst werden kann, und Aristoteles bestimmte das höchste Vermögen des Menschen ... als eine Fähigkeit, der sich das zeigt, >>von dem es einen λóγος nicht gibt<<.
... Was völlig aus dem Gesichtskreis neuzeitlicher Denkungsart verschwand, war die Kontemplation, das Anschauen oder Betrachten eines Wahren.”
(p371:) Die körperlos in der unterwelt des Homer gefangenen seelen, die seele als schatten des körpers wird zum körper als schatten der seele
(p375:) Im unterschied zu heutigen experimenten, welche technik voraussetzen, zB Michelson-Morley, hätten Galileis fall-experimente zu jeder zeit in der geschichte durchgeführt werden können. Heute ist das experimentieren selbst eine art und weise des fabrizierens
(p376f:) “.... es ist, als hätten die Jahrhunderte, in denen die Wissenschaften das Erkennen auf dem Wege des Herstellens ausprobierten, nur als Lehrzeit gedient für eine Welt, in der der Mensch nun wirklich das herstellt und erschafft, was er dann zu erkennen sich anschickt.” [zB Finanzmarktkrisen]
(p377:) “So rückt der Prozessbegriff an die Stelle, die vormals der Seinsbegriff innegehabt hatte, bzw. Sein wird überhaupt nur noch als Prozess erfahren .... Vom Standpunkt des Herstellenden und Fabrizierenden [Homo faber] aus gesehen, bietet das moderne Weltbild ebenfalls das Bild einer >>verkehrten Welt<<, einer Welt nämlich, in der die Mittel, der Herstellungs- oder Entwicklungsprozess, wichtiger geworden sind als die Zwecke, die hergestellten oder gewachsenen Dinge.”
(p380:) “Die politische Philosophie dieser Jahrhunderte, deren größter Vertreter Hobbes war, läuft immer darauf hinaus, Mittel und Wege zu finden, >>ein künstliches Lebewesen ... genannt Gemeinwesen oder Staat herzustellen<<.” (Hobbes in der Einleitung zum Leviathan)
(p383:) “Die politische Philosophie der Neuzeit, deren größter Vertreter Hobbes geblieben ist, scheitert an dem unlösbaren Dilemma, dass der Rationalismus irreal und der Realismus irrational ist - was nichts anderes sagt, als dass Wirklichkeit und menschliche Vernunft nicht mehr zueinander finden.”
Die verabsolutierung des prozessbegriffes in der deutung des herstellens vollendet den bruch mit der anschauung als höchste form menschlicher erkenntnis
(p385:) “ .... Plato und Aristoteles, die bei allen anderen tiefgreifenden Unterschieden zumindest formal einstimmig das Staunen als die Quelle der Philosophie bezeichneten, auch darin übereinstimmten, dass das Ende und Ziel alles Philosophierens wiederum in einem Zustand der Sprachlosigkeit, einer Anschauung, die sich in Worten nicht mitteilen lässt, bestehen soll.”
(p390:) Die kartesische weltentfremdung, ergänzt durch das Nützlichkeitsprinzip, beherrscht die englische philosophie seit dem 17. jahrhundert, die französische seit dem 18. Andere motivationen als interessen scheinen unmöglich für das verhalten. Die vollständige umsetzung der ältesten überzeugung des Homo faber, der mensch sei das maß aller dinge
(p391:) Entwertung der werte durch die warengesellschaft, der tauschwert steht über dem gebrauchswert. Doch noch wichtiger dabei ist die verlagerung des focus vom ding selbst auf den prozess - die feste regel und den maßstab raubend
(p396f:) Hinter “der Theorie von der Heiligkeit des Egoismus und der wohltätigen Macht rücksichtsloser Interessenvertretung in allen ihren Abarten” steckt nicht der lustkalkül mit dem aufrechnen von soll und haben, verdiensten gegen sünden, nicht hedonismus. All diese systeme sind nicht so sehr auf “Glück” gerichtet, als auf “eine Intensivierung des Lebens des Einzelnen, bzw. auf eine Grantie des Lebensprozesses des Menschengeschlechts.”
(p397ff:) Descartes' problem (s.o.) wird vom naturalismus des 19. jahrhunderts gelöst, indem er das leben selbst an die stelle von bewusstsein und außenwelt setzt. Das bild des uhrmachers (causa), der vollkommener sein muss als seine vollkommenste wirkung, die uhren, diese prinzipiell transzendiert. “Nihil sine causa”, wird ersetzt durch die kausalitätsfreie organische entwicklung
(p400:) Die nun im Zentrum dieses Denkens stehende Heiligkeit des Lebens stammt aus der Heilsbotschaft des Christentums von der Unsterblichkeit des Einzellebens. Diese verkehrt die antike Beziehung zwischen Mensch und Welt: unvergänglicher Mensch und vergängliche Welt gegen unvergänglichen Kosmos und sterblichen Menschen. Das höchste Gut ist nun das Leben, nicht mehr die Welt
“Angesichts der möglichen Unsterblichkeit des Einzellebens konnte dem Trachten nach weltlicher Unsterblichkeit keine große Bedeutung mehr zukommen, und das, was die Welt an Ruhm und Ehre zu verleihen vermag, wird eitel, wenn die Welt vergänglicher ist als man selbst.” [und man kann sich diese Interimslösung des Jammertales untertan machen und in Ausbeutung noch vergänglicher]
(p403f:) Da nun also alles der Erhaltung des irdischen Lebens dienende angesichts der Unsterblichkeit zur Notendigkeit wird, rückt das Handeln hinab zum Arbeiten und dieses wird damit aufgewertet. Nicht mehr kann Platons Urteil gelten, der Sklave habe seine sklavische Seele bereits dadurch bewiesen, sich nicht das Leben genommen zu haben, um der Unterwerfung zu entgehen. Erhaltung des (eigenen) Lebens wird heilige Pflicht. Selbstmord wird ein schwereres Verbrechen als Mord: dem Selbstmörder wird das christliche Begräbnis verweigert, dem Mörder nicht. [Und die christliche Religion erweist sich somit aus Sicht des antiken Seins als Sklavenreligion]
Nicht Pflicht zur Arbeit allerdings wird gepredigt vom Christentum, wenn auch immer wieder versucht wird, dies dem Paulus zu unterstellen (doch siehe 1. Thessaloniker 4,9-12 und 2. 3,8-12), sondern, sich am Leben zu erhalten. So sagt zB Thomas von Aquin, man solle nur arbeiten, wenn man sich sonst wirklich nicht zu helfen wisse.
(p407:) “Sicher jedenfalls ist, dass die Umkehrung von Theorie und Praxis sich im Rahmen der älteren und radikaleren Umkehrung des Verhältnisses von Leben und Welt vollzog und als solche der Ausgangspunkt für die gesamte moderne Entwicklung wurde. Erst als die Vita activa ihre Ausrichtung auf die Vita contemplativa verlor, konnte sie sich als tätiges Leben voll entfalten; und nur weil dies tätige Leben ausschließlich auf Leben als solches ausgerichtet war, konnte der biologische Lebensprozess selbst, der aktive Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, wie er sich in der Arbeit verwirklicht, so ungeheuer intensiviert werden, dass seine wuchernde Fruchtbarkeit schießlich die Welt selbst und die produktiven Vermögen, denen sie ihre Entstehung dankt, in ihrer Eigenständigkeit bedroht.”
Die moderne welt lässt Animal laborans siegen, denn durch den glaubensverlust, die säkularisierung wird das leben des einzelnen erneut sterblich wie im altertum - aber die welt bleibt weiterhin sterblich.
(p408:) Das innenleben zerfällt in eine rational-rechnerische verstandestätigkeit und ein irrational-leidenschaftliches gefühlsleben - wobei die leidenschaften tatsächlich missverstandene begierden und lüste sind
(p410f:) Die moderne welt zeichnet sich aus durch einen enormen schwund an erfahrung. Die kontemplation ging verloren, das denken im sinne des ziehens von schlussfolgerungen ist zu einer gehirnfunktion degradiert, welche computer besser ausführen können, das handeln wird erst mit dem herstellen gleichgestellt und ist nun auf das niveau des arbeitens abgesunken. Aber selbst die auf arbeit abgestellte welt ist im schwinden begriffen.
“In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig >>beruhigt<< desto besser und reibungsloser >>funktionieren<< zu können. Das Beunruhigende an den modernen Theorien des Behaviorismus ist nicht, dass sie nicht stimmen, sondern dass sie im Gegenteil sich als nur zu richtig erweisen könnten, dass sie vielleicht nur in theoretisch verabsolutierender Form beschreiben, was in der modernen Gesellschaft wirklich vorgeht. Es ist durchaus denkbar, dass die Neuzeit, die mit einer so unerhörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller menschlichen Vermögen und Tätigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.”
(p412:) “.... es ist nicht zu leugnen, dass diese herstellenden Vermögen sich in wachsendem Maße auf die spezifisch künstlerisch Begabten beschränken, was zu Folge hat, dass die eigentlichen weltorientierten Erfahrungen sich mehr und mehr dem Erfahrungshorizont der durchschnittlichen menschlichen Existenz entziehen.”
(p414:) Es ist zu hoffen, dass das denken selbst in der neuzeit noch am wenigsten schaden genommen hat.
“.... Jedenfalls ist es erheblich leichter, unter den Bedingungen tyrannischer Herrschaft zu handeln als zu denken. Die Erfahrung des Denkens hat seit eh und je, vielleicht zu Unrecht, als ein Vorrecht der Wenigen gegolten, aber gerade darum darf man vielleicht annehmen, dass diese Wenigen auch heute nicht weniger geworden sind. Dies mag von nicht zu großer Bedeutung oder doch von nur sehr eingeschränkter Bedeutung für die Zukunft der Welt sein, die nicht vom Denken, sondern von der Macht handelnder Menschen abhängt; es ist nicht irrelevant für die Zukunft des Menschen. Denn hätten wir die verschiedenen Fähigkeiten der Vita activa lediglich von der Frage her betrachtet, welche von ihnen die >>tätigste<< ist und in welcher sich die Erfahrung des Tätigseins am reinsten ausspricht, dann hätte sich vermutlich ergeben, dass das reine Denken alle Tätigkeiten an schierem Tätigsein übertrifft. Diejenigen, die sich in der Erfahrung des Denkens auskennen, werden schwerlich umhinkönnen, dem Ausspruch Catos zuzustimmen: numquam se plus agere quam nihil cum ageret, numquam minus solum esse quam cum solus esset, was übersetzt etwa heißt: >>Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut, niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit sich allein ist.<<

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